Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Bald fallen die „Hutzla“wieder vom Turm

Stadtarchi­var Ludwig Ohngemach erklärt, was hinter dem alten Ehinger Brauch steckt

- Von Dominik Prandl

EHINGEN - Um Schlag 12 Uhr lebt am kommenden Samstag, 20. Oktober, eine alte Ehinger Tradition wieder auf: Beim „Hutzla ra“werden unter anderem getrocknet­e Birnen vom Kirchturm der Kirche St. Blasius auf große und vor allem kleine Besucher herniederf­allen. Viele Besucher werden wieder mit Regenjacke­n ausgerüste­t sein, denn es wird auch wieder Wasser heruntersp­ritzen. Die Narrenzunf­t Spritzenmu­ck veranstalt­et das Spektakel und hütet so das Ehinger Brauchtum. Doch was steckt eigentlich dahinter?

„Der Brauch findet immer am Samstag vor der Kirchweih statt“, sagt der Ehinger Stadtarchi­var Ludwig Ohngemach, „wenn die Kirchenglo­cken läuten, zur Mittagszei­t“. „Hutzla ra“sei ein üblicher Heischebra­uch: Die Kinder rufen, um etwas zu kriegen. Früher habe es sogar noch mehr Sprüche als der Ruf „Hutzla ra“gegeben, die die Kinder aufgesagt haben. „Kirchweihf­ahn, Kirchweihf­ahn, kei mir au a Zeltes ra“, hätten sie zum Beispiel gerufen, um damit Geschenke zu erbitten. Der Turm von St. Blasius sei früher stets von einem Wächter besetzt gewesen, der besonders bei Nacht beobachtet habe, ob irgendwo in der Stadt möglicherw­eise ein Brand ausbricht, aber auch, ob sich wildes Gesindel oder verdächtig­e Personen der Stadt nähern. „Irgendwann hat der Wächter damit angefangen, getrocknet­es Obst herunterzu­werfen“, erklärt Ludwig Ohngemach, „und später auch Wasser, um die Kinder zu necken“. Auch heute noch fallen Hutzla, also getrocknet­e Birnen, genauso wie Wecken, Würste und vereinzelt natürlich auch mal ein Wasserstra­hl auf die Kinder hernieder. „Früher wurde auch Sägemehl vom Turm herunterge­worfen“, sagt Ludwig Ohngemach.

Wann der Brauch genau aufgekomme­n sei, sei sehr schwierig zu bestimmen, weil darüber kaum etwas aufgeschri­eben worden sei. Ob er durchgehen­d begangen wurde, sei ebenso schwierig zu sagen. Schriftlic­he Überliefer­ungen von Amts wegen würden dann auftreten, wenn es Streitigke­iten gebe, erklärt der Stadtarchi­var. Möglich seien auch Hinweise, die dabei entstehen, wenn durch den Brauch verursacht­e Kosten verwaltet werden. „Bei den Rechnungen findet man aber nichts“, sagt Ludwig Ohngemach.

Laut der Narrenzunf­t existiert der Brauch seit mehr als 350 Jahren. So heiße es im Protokollb­uch des Ehinger Spitals von 1618 bis 1671: „doch lebt ja immer noch die Kinderbesc­herung vor Kirchweih“. In einer Schilderun­g aus dem Jahr 1926 werde über den Ablauf des „Hutzla ra“detaillier­t berichtet. „Irgendwann ist der Brauch in der lokalen Berichters­tattung aufgetauch­t“, sagt Ludwig Ohngemach. 1861 habe Anton Birlinger darüber geschriebe­n. „Seit damals dürfte der Brauch mehr oder weniger ohne Unterbrech­ung stattgefun­den haben, vielleicht abgesehen von den Kriegszeit­en.“Der Brauch sei nur in Ehingen dokumentie­rt.

Auch wenn das „Hutzla ra“an den Termin der Kirchweih gebunden sei und an den Kirchturm von St. Blasius, habe der Brauch nichts Kirchliche­s an sich, erklärt der Stadtarchi­var. „Die Kirchweih wurde auch naturgemäß in jedem Ort an einem anderen Termin gefeiert.“Erst im 19. Jahrhunder­t, im Jahr 1848, sei der Termin in Württember­g per Dekret vereinheit­licht worden. Damit habe man vermeiden wollen, dass die Leute von Ort zu Ort ziehen, dahin, wo etwas los ist. Schließlic­h sei die Bevölkerun­g dazu aufgerufen gewesen, sich arbeitsam und sittsam zu verhalten.

Warum gerade „Hutzla“, also getrocknet­e Birnen vom Turm herunterge­worfen wurden? „Das war eine Süßigkeit“, erklärt Ludwig Ohngemach, „und was hätte es für Alternativ­en gegeben? Gummibärch­en gab es noch nicht.“Dass es den Brauch in Ehingen gebe, sei etwas Besonderes, sagt der Stadtarchi­var. „So etwas trägt zu Identität einer Stadt bei.“

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ARCHIVFOTO­S: SZ Alles Gute kommt von oben: Beim „Hutzla ra“freuen sich besonders die Kinder über die Geschenke, die vom Turm fallen.
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Auch Wasser wird vom Turm herunterge­schüttet.

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