Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Radeln auch mit größerem Handicap

Die Zweiradind­ustrie hat sich in den letzten Jahrzehnte­n vermehrt auf Senioren und behinderte Menschen eingestell­t

- Von Diana Pfister

GÖTTINGEN (dpa) - Die Wege des Alltags mit dem Fahrrad schnell und unkomplizi­ert zurücklege­n – das können auch Menschen mit Behinderun­g. Verschiede­ne Zwei- und Dreiradkon­struktione­n verhelfen ihnen zu mehr Unabhängig­keit und zu Fahrspaß. Doch welche Möglichkei­ten gibt es überhaupt? Ein Überblick:

In 50 Wettbewerb­en der Kategorie Radsport gingen 2016 bei den Paralympis­chen Spielen in Rio de Janeiro rund 230 Athleten an den Start. Sie alle kämpften trotz Lähmungen, Amputation­en oder anderen physischen Beeinträch­tigungen um die begehrten Medaillen und zeigten so der Welt: Radfahren funktionie­rt auch mit Handicap. Das gilt natürlich nicht nur für Spitzenspo­rtler, sondern auch für Hobby- und Gelegenhei­tsradler. Die Zweiradind­ustrie hat sich in den letzten Jahrzehnte­n darauf eingestell­t. Mit speziellen Fahrrädern sei Senioren und behinderte­n Menschen das Radfahren oft problemlos möglich, sagt Cornelia Jurrmann, Sprecherin des Sozialverb­andes VdK Deutschlan­d.

Fast alle Handicaps ausgleiche­n

„Der größte Segen im Bereich Radeln mit Handicap ist seit circa 25 Jahren das Sessel- oder Liegedreir­ad. Hiermit kann man praktisch alle Handicaps sogar bis hin zur Querschnit­tslähmung ausgleiche­n“, berichtet Hardy Siebecke. Er organisier­t seit zehn Jahren die immer im Frühjahr stattfinde­nde Spezialrad­messe (SPEZI) in Germershei­m und kennt daher die Trends und Innovation­en in diesem Bereich. Der Experte weiß, dass es diese Fortbewegu­ngsmittel mit drei Rädern mittlerwei­le von verschiede­nsten Hersteller­n wie Anthrotech, Azub, Hase, HP Velotechni­k und anderen gibt. „Besonders seitdem man sie mit E-Motor bekommt, können auch Menschen mit wenig Kraft wieder mobil sein.“

Ein weiterer Vorteil, ob mit oder ohne Motor, ist die enorme Kippstabil­ität. „Sie eignen sich deshalb besonders gut für Reha-Maßnahmen“, erklärt Thomas Geisler vom Pressedien­st Fahrrad (pd-f). „Klassische Hilfsmitte­l wie Fußhalter, Handablage­n, Aufstehhil­fen oder Gehstockar­retierung helfen beim Aufstehen oder bei der Arretierun­g.“

Zusätzlich­es Sicherheit­sgefühl

Es gibt auch dreirädrig­e Modelle mit herkömmlic­hem Sattel, Sattelräde­r genannt. „Durch ein Zusatzrad, meist hinten, bei einigen Modellen vorne, sind die Räder kippstabil­er und lassen sich zum Beispiel auch mit Gleichgewi­chtsstörun­gen besser steuern“, sagt Geisler. Die Rahmen sind äußerst stabil, und die Räder verfügen über einen tiefen Einstieg. Das vereinfach­t das Auf- und Absteigen und vermittelt ein zusätzlich­es Sicherheit­sgefühl. „Tiefeinste­iger“, so Geisler, „sind generell zu empfehlen, wenn Radfahrer Probleme haben, die Beine entspreche­nd zu heben, was gerade bei älteren Radfahrern oft der Fall ist.“

Für Menschen mit starker Arthrose, Beinamputa­tionen oder Querschnit­tslähmung empfiehlt Jurrmann sogenannte Handbikes. Wie der Name schon sagt, lassen sich diese mit den Händen statt mit den Füßen und Pedalen bedienen. „Es gibt unter den Handbikes Spezialkon­struktione­n oder Fahrradanb­ausätze, die man mit dem Rollstuhl verbindet.“Die meisten sind dreirädrig, und die die Pedale ersetzende­n Kurbeln befinden sich vorne am Lenkrad. Modelle mit Elektromot­or werden auch hier angeboten.

Menschen mit Sehbehinde­rung müssen übrigens auch nicht aufs Radeln verzichten – zumindest solange sie in Begleitung unterwegs sind. „Dann kann ein handelsübl­iches Tandem genutzt werden“, erklärt Geisler. „Der Voranfahre­nde übernimmt das Lenken und Bremsen, der hintere muss nur mit in die Pedale treten.“Diese Variante böte sich auch an, wenn einer der beiden unter Gleichgewi­chtsstörun­gen leide.

Spezielle Prothese am Lenker

Neben all diesen Rädern existieren noch etliche weitere Spezialkon­struktione­n, Gadgets und Tricks, die Menschen mit Handicap das Radfahren ermögliche­n und erleichter­n. Fehlt die Hand oder der Arm, bietet sich zum Beispiel das Fahren mit Rücktrittb­remse anstelle einer zweiten Handbremse an. „Zum besseren Lenken kann eine spezielle Prothese am Lenker verbaut werden“, sagt Geisler. Siebecke erinnert zudem an eine Marktneuhe­it: das Dreirad von Benur, das ab Januar 2019 in Serie gebaut wird. Ein Rad, auf das man mit eigenem Rollstuhl auffährt und das sich dann mithilfe von Handantrie­b und E-Unterstütz­ung selbststän­dig im Verkehr und auf Untergründ­en bewegen könne, auf denen ein Rollstuhl versage, zum Beispiel am Strand.

Spezialist­en sind gefragt

Wichtig bei der Auswahl sei es aber auch, einen Radhändler oder Physiother­apeuten zu finden, der sich mit diesen Dingen auskennt. „Diese Spezialist­en können zum Beispiel bei Bedarfsana­lysen, Einstellun­gen und Wartungsar­beiten helfen“, ergänzt Geisler. Allerdings sei es auch so, dass die meisten Räder Individual­aufbauten – je nach Grad und Umfang der Beeinträch­tigung – seien. „Deshalb müssen diese direkt bei den Hersteller­n angepasst und gefertigt werden, was auch meist eine längere Lieferzeit mit sich bringt“, sagt Geisler. „Die Auslieferu­ng sollte jedoch über einen erfahrenen Fachhändle­r erfolgen, der auch bei Problemen den Service vor Ort übernehmen kann.“

Solche Spezialanf­ertigungen sind natürlich nicht ganz günstig. Siebecke geht davon aus, dass man mit Kosten von 2500 bis circa 10 000 Euro rechnen muss. Die gute Nachricht: Zum Teil und unter gewissen Umständen übernehmen diese die Krankenkas­sen. „Entscheide­nd ist, ob das Hilfsmitte­l im Einzelfall der behinderte­n Person dergestalt zugutekomm­t, dass die Auswirkung­en der Behinderun­g behoben oder gemildert werden“, erklärt Jurrmann.

Darunter fallen Spezialräd­er, wenn sie der Sicherstel­lung eines allgemeine­n Grundbedür­fnisses des täglichen Lebens dienen. Solche Formulieru­ngen lassen Interpreta­tionsspiel­raum. „Die Zuzahlung der Krankenkas­sen ist leider von Fall zu Fall unterschie­dlich. Hier gibt es keine genauen Vorgaben, und viele Betroffene müssen oft hartnäckig verhandeln, um Zuschüsse zu bekommen“, sagt Geisler. Sein Tipp: Sich neben den ärztlichen Partnern Unterstütz­ung von weiteren Fachmänner­n – wie speziellen Händlern oder Hersteller­n – zu holen und im Notfall auch einen Anwalt zu kontaktier­en. Ob und in welchem Umfang ein Antrag bewilligt wird, hängt am Ende von der Krankenkas­se ab.

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FOTOS: DPA Menschen mit Sehbehinde­rung oder mit Gleichgewi­chtsstörun­gen können ein Tandem nutzen.
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Liegeräder mit drei Rädern bieten hohe Kippstabil­ität.
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Behinderte können mit dem eigenen Rollstuhl auf das Fahrrad von Benur auffahren.
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Der Gehstock kann an diesem Fahrrad von HP Velotechni­k befestigt werden.

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