Ideologen ohne Verantwortung
Mehr als zwei Jahrhunderte lang hat die konservative Partei in Großbritannien vor allem ein Ziel im Auge behalten: ihre Regierungsfähigkeit. Wozu helfen all die schönen politischen Ideen, wenn sie nicht dem Machterhalt dienen? Maßvoll agieren, das Gute bewahren, aber im Zweifelsfall blitzschnell sich neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen – mit dem Rezept haben Torys das Land geprägt.
Doch nun büßt die Partei ihren Ruf als pragmatische Bewahrer des Landes mehr und mehr ein. Der Grund heißt Europa. In den 1970er-Jahren hatten die Konservativen das Land in die damalige EWG geführt. Doch seit die eiserne Lady Margaret Thatcher 1990 vermeintlich über Europa – in Wirklichkeit über ihre eigene Hybris – stolperte, machen sich bei den Torys dogmatische Ideologen breit.
Ihnen ist alles ein Gräuel, was mit der EU zusammenhängt. Ihre Haltung hat nichts mit jener gesunden Skepsis gegenüber Brüsseler Wolkenkuckucksheimen zu tun, die andere Europäer an den Briten stets zu schätzen wussten. Sie träumen von uneingeschränkter Souveränität; die EU gilt ihnen als legitimer Nachfolger kontinentaleuropäischer Diktatoren wie Napoleon oder Hitler.
Als Premierminister hat erst David Cameron, später Theresa May diesen Dogmatikern immer wieder nachgegeben, sogar weite Teile ihrer Rhetorik übernommen. Das Resultat war die Austrittsentscheidung, die beide Seiten – Großbritannien und die EU – immens beschädigt. Doch sobald es an die pragmatische Umsetzung des Brexit ging, schwierige Abwägungen und schmerzhafte Kompromisse nötig waren, stahlen sich alle Schreihälse wie Boris Johnson, David Davis oder jetzt der zuständige Minister Dominic Raab davon.
Die Premierministerin hat unter schwierigen Bedingungen einen akzeptablen Deal erzielt. Statt sie zu unterstützen, rufen die Brexit-Ultras zu ihrem Sturz auf. Fassungslos sehen das Land und seine zahlreichen Freunde auf dem Kontinent dem kollektiven Nervenzusammenbruch der Torys zu. Die totale Verantwortungslosigkeit hat den unbedingten Willen zur Macht abgelöst.