Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Leiden aus Leidenscha­ft

Fußball: Mit dem Rad zur WM nach Russland und zu Fuß zum HSV: Zwei Fans erzählen

- Von Gideon Ötinger

ULM - Fußballfan­s haben es nicht leicht. Mal läuft es gut, mal läuft es schlecht, mal verliert man, mal gewinnen die anderen. Blöd, wenn es vor allem die anderen sind, die gewinnen. Dann ist die Grenze der Leidenscha­ft zum Leiden fließend. Köln-Anhänger können davon ein Lied singen, Nürnberger sowieso und die des Hamburger SV – dazu später mehr.

So untröstlic­h ein Fan beim Abstieg oder einem verlorenen Finale auch sein mag, ein Gutes hat das Leiden: Körperlich­e Anstrengun­gen sind damit nicht verbunden. Doch es gibt Fans, die nehmen genau das für ihre Leidenscha­ft in Kauf. Hartmut Bögel ist einer von ihnen. 52 Jahre alt, schlaksige Gestalt, braun gebrannt – Typ Naturbursc­he. Der Mann aus dem Blausteine­r Ortsteil Wippingen liebt das Radfahren, einen „Alltagsrad­ler“nennt er sich. Er radelt zur Arbeit, in der Freizeit durchs Blautal oder sonstwohin und manchmal fährt er eben nach Neuseeland oder zur Fußball-Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland. So lapidar erzählt er es am Mittwochab­end bei der Veranstalt­ung „Spielraum“der Volkshochs­chule Ulm.

2008 zu Olympia nach Peking

Lapidar ist seine Geschichte allerdings nicht. 2003 muss er eine Trennung verdauen und will Distanz zur Heimat. Da kommt ihm Neuseeland in den Sinn, denn weiter weg geht es ja wohl nicht. Mit seinem TrekkingRa­d im Gepäck fliegt er auf die Insel, tourt zwei Monate durchs Land und anschließe­nd weitere zwei Monate durch Australien – 13 000 Kilometer insgesamt. Durch die Tour ist die Leidenscha­ft in Bögel entflammt. „Wie so oft im Leben ergibt sich alles“, sagt er.

Hartmut Bögel beschließt, 2008 von der Heimat aus zu den olympische­n Spielen in Peking zu radeln und trifft dort einen Südafrikan­er, der ihn zur Fußball-WM 2010 einlädt (wieder mit dem Fahrrad). So greift ein Rädchen ins andere. 2012 ist er bei der Fußball-Europameis­terschaft in Polen und der Ukraine, 2014 bei der WM in Brasilien und im vergangene­n Jahr eben in Russland. 45 000 Kilometer lang waren allein seine Fußballrei­sen. Insgesamt, schätzt er, hat er schon über 120 000 Kilometer auf dem Rad zurückgele­gt.

Immer erlebt er dabei besondere Geschichte­n, die ihn noch mehr anspornen, weiterzura­deln. Fußballfan ist er ohnehin (vom FC Bayern München und vom SC Freiburg) und auf seinen Touren lernt er ihn noch viel mehr lieben: „Der Fußball ist fantastisc­h. Er hat die Magie und die Kraft, Grenzen aufzuwisch­en.“Wenn er mit seinem Rad bei Turnieren unterwegs ist, hat er daran ein kleines Deutschlan­dfähnchen befestigt. In Russland erkennen das drei Einheimisc­he, als Bögel an ihnen vorbeifähr­t. Sie halten ihn an. Er spricht kein Russisch, sie kein Deutsch oder Englisch. Das macht aber nichts. Einer der Männer holt sein Handy raus und zeigt dem Deutschen ein Video. Es ist der Freistoßtr­effer von Toni Kroos im Gruppenspi­el Deutschlan­ds gegen Schweden zwei Tage zuvor. Immer und immer wieder schauen sie sich den Treffer an, jubeln und fallen sich jedes Mal aufs Neue in die Arme. „Das schafft nur der Fußball“, sagt Hartmut Bögel.

Vier Monate lang ist der Wippinger für die WM 2018 gereist, auf dem Rückweg machte er einen kleinen Schlenker über Skandinavi­en. Eine lange Zeit, das funktionie­rt nicht ohne Zugeständn­isse. Bögel arbeitet als

„Wie so oft im Leben ergibt sich alles.“Hartmut Bögel

Altenpfleg­er in Dornstadt und hat einen offensicht­lich sehr kulanten Chef. Immer wenn eine Reise ansteht, sammelt der Alltagsrad­ler weit davor Überstunde­n an und baut sie auf einen Schlag ab. Unterwegs lebt er vom Ersparten, teuer sind seine Reisen ohnehin nicht. „Wenn ich nicht oft im Hotel übernachte, geht es.“Ein Zelt hat er immer dabei, genau wie ein „Ohne Worte Wörterbuch“, einen Kompass und Landkarten.

Was er nicht dabei hat, sind seine beiden Töchter, von denen er den ein oder anderen wichtigen Moment in ihrem Leben nicht mitbekomme­n hat. „Man verpasst manchmal was“, sagt er. Das muss er hinnehmen für seine Leidenscha­ft. Ob die auch manchmal zur Qual auf dem Fahrrad wird? „Es gibt Tage, da ist es eine Qual.“Etwa bei Gegenwind oder 2010 in Südafrika – da hatte er zwei Wochen lang Darmproble­me. „Letzten Endes ist es aber eine schöne Qual. Es ist die große Freiheit und ein großes Abenteuer.“Auf seinen Reisen sammelt er zudem Spenden für das Kinderhilf­swerk Unicef. „Der Schwabe fährt ja nicht unnötig durch die Gegend“, sagte er in einem TV-Beitrag. Im Sommer will er zur Frauen-WM nach Frankreich.

Am Anfang war es eine Qual

Unnötig durch die Gegend ziehen kommt auch für Volker Keidel nicht in Frage. Der fränkische Buchautor lebt in München und ist HSV-Fan. Schwierig genug, könnte man sagen. Aber für ihn ging es noch schwierige­r. Im Ulmer „Spielraum“las er aus seinem Buch „Mein Ditmar Jacobsweg“vor, für das er im Jahr 2014 etwa 875 Kilometer weit wanderte. Vom Münchner Marienplat­z bis zum Hamburger Volksparks­tadion. Im Gepäck hatte er eine kleine Meistersch­ale: „Ich habe gesagt: Wenn ich das schaffe, wünsche ich mir vom Fußballgot­t die deutsche Meistersch­aft.“Ein paar Jahre später folgte der Abstieg. 31 Tage lang war er unterwegs, am Anfang sei es eine Qual gewesen, dann aber nicht mehr. Als er schließlic­h ankam, saß er beim Spiel des HSV gegen Paderborn im Stadion. Hamburg verlor mit 0:3. „Der HSV ist immer das größte Leiden“, sagt er.

 ?? FOTOS: SAMMLUNG BÖGEL/DPA ?? Zwei Fans, eine Leidenscha­ft. Der Blausteine­r Hartmut Bögel (links) ist mit dem Rad zur Fußball-Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland gefahren, HSV-Fan Volker Keidel (rechts) aus München lief vom Marienplat­z nach Hamburg.
FOTOS: SAMMLUNG BÖGEL/DPA Zwei Fans, eine Leidenscha­ft. Der Blausteine­r Hartmut Bögel (links) ist mit dem Rad zur Fußball-Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland gefahren, HSV-Fan Volker Keidel (rechts) aus München lief vom Marienplat­z nach Hamburg.
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