Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Digitales Störfeuer

Wie stark gefährdet Desinforma­tion die Europawahl? Wichtige Fragen und Antworten im Überblick

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RAVENSBURG - Noch nie stand eine Europawahl so im internatio­nalen Fokus wie in diesem Jahr. Entspreche­nd groß ist die Sorge vieler Experten, dass sie beeinfluss­t werden könnte von Desinforma­tionskampa­gnen. Was hinter der Gefahr steckt, wie groß sie ist – und was dagegen getan werden könnte: Sebastian Heinrich fasst wichtige Fragen und Antworten zum Thema zusammen.

Was ist gemeint mit Desinforma­tion?

Mit „Desinforma­tion“wird allgemein die gezielte Verbreitun­g falscher oder irreführen­der Informatio­nen bezeichnet. Das Ziel ist meist, Gesellscha­ften zu spalten – um leichter bestimmte politische Ziele zu erreichen. Im digitalen Zeitalter ist Desinforma­tion einfacher als früher: Für Kampagnen in sozialen Medien wie Facebook oder MessengerD­iensten wie WhatsApp ist oft nur geringer Aufwand nötig – während die Wirkung groß sein kann. Das ist auch möglich, weil jeder Nutzer digitaler Dienste im Netz Datenspure­n hinterläss­t, die Rückschlüs­se etwa auf Alter, Geschlecht und politische Neigung ermögliche­n. Wer auf sozialen Medien Werbung betreibt, dem ermögliche­n diese Daten, gezielt bestimmte Gruppen zu erreichen.

Welche Desinforma­tionskampa­gnen gab es in Europa in den vergangene­n Jahren?

Beim Brexit-Referendum 2016 setzten Befürworte­r eines britischen EU-Austritts sogenannte „Dark Ads“auf sozialen Medien ein – also Werbeanzei­gen, die nur bestimmte Nutzergrup­pen zu sehen bekommen: junge Städter mit hohem Einkommen sahen also zum Beispiel andere Anzeigen als ältere Menschen auf dem Land mit niedrigem. Einige enthielten Falschinfo­rmationen: etwa, dass ein EUBeitritt der Türkei bevorstehe oder dass die EU Teekessel verbieten wolle. Besonders besorgnise­rregend ist der konkrete Verdacht, dass hinter dieser Desinforma­tion der russische Staat stecken könnte: In Großbritan­nien laufen Ermittlung­en gegen Arron Banks, der die Pro-Brexit-Kampagne mit Millionens­penden förderte. Die Ermittlung­sbehörde geht „mit großer Wahrschein­lichkeit“davon aus, dass Banks das Geld aus russischen Quellen erhielt. Vor der Bundestags­wahl 2017 wurde in großem Umfang Desinforma­tion über Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) verbreitet. Das Nachrichte­nportal „Buzzfeed“recherchie­rte 2017 etwa, dass sieben der zehn Artikel über Merkel mit den meisten FacebookIn­teraktione­n Falschmeld­ungen waren.

Welche Anzeichen gibt es für Desinforma­tion bei der anstehende­n Europawahl?

Vertreter der Europäisch­en Kommission warnen seit Monaten regelmäßig vor Desinforma­tion bei der Europawahl. Sie befürchten vor allem Einflussna­hme aus Russland durch sogenannte Social Bots: mit Künstliche­r Intelligen­z gesteuerte Nutzerprof­ile in sozialen Medien, die automatisc­h bestimmte Informatio­nen verbreiten. Vera Jourová, Kommissari­n für Justiz und Verbrauche­rfragen, wies Mitte Mai im Gespräch mit dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d (RND) zum wiederholt­en Mal auf die Gefahr hin, dass die Europawahl in einzelnen Ländern durch Manipulati­on verfälscht werden könne. In der „New York Times“(NYT) erschien Mitte Mai ein langer Artikel über russische Desinforma­tion. Die Autoren erwähnen darin etliche Beispiele von Desinforma­tion, vor allem zugunsten rechter Parteien wie der italienisc­hen Lega, der deutschen AfD und der populistis­chen italienisc­hen Fünf-Sterne-Bewegung. In BadenWürtt­emberg gibt es laut dem Landesdate­nschutzbea­uftragten Stefan Brink noch keine konkreten Hinweise auf Desinforma­tionskampa­gnen. Wie einflussre­ich digitale Desinforma­tion tatsächlic­h ist, ist unter Experten umstritten. Mit Blick auf Deutschlan­d sagte etwa Alexander Sängerlaub, der sich für den unabhängig­en Think Tank „Stiftung Neue Verantwort­ung“mit digitaler Desinforma­tion beschäftig­t, in einem Gespräch mit dem „Deutschlan­dfunk“: „Einstellun­gsänderung­en durch Desinforma­tionen sind wahrschein­lich sehr, sehr selten.“Sängerlaub begründete das unter anderem mit einem relativ hohen Vertrauen vieler Bürger in Qualitätsm­edien – und einem verbreitet­en Misstrauen in Informatio­nen, die nur über soziale Medien verbreitet werden.

Was tun staatliche Institutio­nen gegen Desinforma­tion?

EU-Justizkomm­issarin Jourová hat mit ihrem Kollegen Julian King, dem die Zusammenar­beit der nationalen Sicherheit­sbehörden obliegt, im Herbst 2018 einen Aktionspla­n gegen Manipulati­on erstellt, der später von den EU-Mitgliedss­taaten angenommen wurde. Unter anderem sieht der Plan die Stärkung einer Taskforce gegen Desinforma­tion vor, ein Frühwarnsy­stem zur Abwehr von Desinforma­tion, stärkere Informatio­nskampagne­n der EU vor der Europawahl – und einen Verhaltens­kodex für Plattformb­etreiber, damit diese Desinforma­tion besser entgegenwi­rken. Dessen Einhaltung will die EUKommissi­on Ende 2019 überprüfen.

Welche politische­n Vorschläge gibt es, um Desinforma­tion besser zu bekämpfen?

Für die Bemühungen der EU-Kommission gibt es in Deutschlan­d Lob, aus Regierungs­parteien und Opposition. Teile der Opposition fordern mehr Einsatz der Bundesregi­erung. Man höre von der Bundesregi­erung zum Thema „wenig bis gar nichts“, sagt Konstantin von Notz, Innen- und Netzpoliti­ker der Grünen, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Seine Bundestags­fraktion fordert deutlich strengere Maßnahmen gegen intranspar­ente Einflussna­hmen auf demokratis­che Willensbil­dungsproze­sse und gezielte Desinforma­tion – unter anderem eine zentrale Stelle auf Bundeseben­e zur Erkennung entspreche­nder Gefahren. Zudem brauche es klare Zuständigk­eiten und Abläufe im nationalen Cyberabweh­rzentrum für derartige Übergriffe im Vorfeld von Wahlen in Deutschlan­d. Die gebe es bis heute nicht. Der Ravensburg­er FDP-Bundestags­abgeordnet­e und Sicherheit­spolitiker Benjamin Strasser spricht sich vor allem für mehr europäisch­e Vernetzung aus: „Deutschlan­d und seine europäisch­en Partner dürfen Rechtsradi­kalen und ausländisc­hen Trolltrupp­en nicht das Netz überlassen“, teilt Strasser mit. Es brauche eine „gemeinsame Abwehrstra­tegie zur Verteidigu­ng unserer liberalen Demokratie“. Dazu müssten „Hintergrün­de von Struktur und Finanzieru­ng der Desinforma­tionskampa­gnen besser aufgeklärt sowie Bildungsun­d Aufklärung­smaßnahmen gegen solche Feldzüge europaweit verzahnt werden“.

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FOTO: DPA Aus der Europäisch­en Kommission kommen seit Monaten Warnungen vor Desinforma­tion im Europawahl­kampf. Wie gefährlich gezielte Falschinfo­rmationen für die europäisch­en Demokratie­n sind, ist umstritten.

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