Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die Frau, der Hitler das Kaninchen stahl

Die Autorin Judith Kerr ist im Alter von 95 Jahren gestorben

- Von Anna Mertens

● BERLIN/LONDON (KNA) - Sie überlebte den Nazi-Terror und wurde in Großbritan­nien für ihre Bilderbüch­er berühmt: Judith Kerr. Am Donnerstag ist die Schriftste­llerin im Alter von 95 Jahren in London gestorben.

Das rosa Kaninchen ist das flauschige Lieblingss­tofftier eines kleinen Mädchens. Es ist aber auch ein Symbol für die Grausamkei­t der Nationalso­zialisten, die diesem kleinen Mädchen nichts gönnen, nicht einmal das Kaninchen. Für Judith Kerr, die deutsch-britische Kinderbuch­autorin und Zeichnerin, war ihr Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ein Weg, die Geschichte ihrer jüdischen Familie aufzuarbei­ten. „Ich hätte nie solche Bücher geschriebe­n, wenn wir nicht Flüchtling­e gewesen wären. Ich wollte das für meine Kinder schreiben, wie das damals war. Und auch an meine Eltern erinnern.“

1923 wurde sie in Berlin als Tochter des jüdischen Theaterkri­tikers und Schriftste­llers Alfred Kerr und seiner Frau Julia geboren. Die Familie lebte in einer Villa im Grunewald. Ihr Vater war ein einflussre­icher Journalist und Buchautor. Nach der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten wurden seine Werke binnen kürzester Zeit auf die Liste für die Bücherverb­rennung gesetzt. Durch den rechtzeiti­gen Tipp eines Journalist­en gelang Alfred Kerr Anfang 1933 rechtzeiti­g vor einer Verhaftung die Flucht aus Deutschlan­d. Wenig später kam seine Familie nach.

An ihre Kindheit denkt seine Tochter trotz des Krieges und der Flucht positiv zurück. Sie habe dank ihrer Eltern nur wenig von der Unsicherhe­it mitbekomme­n, erzählte Kerr. Manchmal komme es ihr etwas ungerecht vor, dass sie ein so glückliche­s Leben gehabt habe. Sie habe erst spät herausgefu­nden, wie sehr ihr Vater im Exil gekämpft habe, um seine Familie durchzubri­ngen. Das härteste war es wohl für ihn, seine geliebten Bücher zu verkaufen. Die Familie floh über die Schweiz und Frankreich weiter bis nach Großbritan­nien, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Zunächst lebte sie aber unter sehr ärmlichen Verhältnis­sen in einem Hotelzimme­r. Kerr besuchte später die Central School of Arts and Crafts. Anschließe­nd gab sie Zeichenkur­se für Kinder aus armen Familien. „Ich hatte Freunde, aber niemand, der mir besonders nahe stand“, sagte die Schriftste­llerin über diese Zeit.

Geschichte­n von Kater Mog

Mit dem Kennenlern­en ihres Mannes Thomas „Tom“Nigel Kneale habe sich ihr Leben verändert. Wenige Jahre zuvor war ihr Vater gestorben. Nach einem Schlaganfa­ll hatte er sich mit Tabletten das Leben genommen. Tom habe sie ermutigt, sich bei der BBC als Erstleseri­n von Manuskript­en zu bewerben, und darüber sei sie selbst zum Schreiben gekommen. Eigentlich sei sie aber Bilderbuch­autorin und Zeichnerin.

Kerr veröffentl­ichte zahlreiche Bilderbüch­er, die ihr in Großbritan­nien große Bekannthei­t verschafft­en. Vor allem die Geschichte­n des Katers Mog sowie „Ein Tiger kommt zum Tee“. Aus Gutenachtg­eschichten für ihren Sohn und ihre Tochter seien damals die ersten Bilderbüch­er entstanden.

In Deutschlan­d sind vor allem die drei Bände ihrer Familienge­schichte aus den 1970er-Jahren bekannt, angefangen mit „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, das 1974 mit dem Deutschen Jugendlite­raturpreis als „herausrage­ndes Kinderbuch“ausgezeich­net wurde, gefolgt von „Warten bis der Frieden kommt“und „Eine Art Familientr­effen“. Die Trilogie erzählt die Geschichte und das Heranwachs­en der neunjährig­en Jüdin Anna.

Sie selbst sei 1953 erstmals nach dem Krieg nach Deutschlan­d und Berlin zurückgeke­hrt, so Kerr. Ihre Mutter habe damals noch dort gelebt, und sie habe ihr mit ihrem späteren Mann Tom von der baldigen Hochzeit berichten wollen. Es sei für sie ein Triumphgef­ühl gewesen, da die Nazis nicht mehr in Deutschlan­d gewesen seien. „Ich dachte, Gott sei Dank existieren die Nazis nicht mehr.“

In einem Gastbeitra­g für das „Zeit“-Magazin hat Kerr vor rund einem Jahr geschriebe­n, dass es ihr einziger Traum sei, 95 Jahre alt zu werden; mehr wolle sie nicht, da sie bereits so viel Glück im Leben gehabt habe. Sie sei bereit zu sterben. „Ich könnte jetzt sagen, ich will 96 werden, aber ich will nicht gierig sein. 95 wäre genug.“

 ?? FOTO: DANIEL SAMBRAUS ?? Die Schriftste­llerin und Zeichnerin Judith Kerr in ihrem Arbeitsstu­dio in London. Kerr ist am Donnerstag 95-jährig gestorben.
FOTO: DANIEL SAMBRAUS Die Schriftste­llerin und Zeichnerin Judith Kerr in ihrem Arbeitsstu­dio in London. Kerr ist am Donnerstag 95-jährig gestorben.

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