Geschlechter-Diskurs mit der Gitarre
Anna Calvi verknüpft im Ulmer Zelt zum Saisonauftakt Rock mit Fragen der sexuellen Identität
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ULM - Ihre Fans im Ulmer Zelt lässt Anna Calvi einige Minuten warten. Aber nicht etwa wegen Star-Allüren. Die britische Musikerin musste zuvor selbst lange bangen: Ihre Gitarren waren nicht rechtzeitig in Ulm angekommen. Erst um 20 Uhr, als Calvi und ihre Bandkollegen eigentlich schon auf dem Weg zur Bühne sein sollten, trafen die Instrumente ein. Gelohnt hat sich das Warten später für alle Seiten: Für die 38-Jährige, weil sie ohne ihre Telecaster-Gitarren aufgeschmissen wäre, und für die rund 350 Zuschauer, die ein Konzert einer Künstlerin erleben, die im Rock-Genre neue, feministische und queere Akzente setzt.
Anna Calvi ist keine Rockmusikerin von der Stange. Ihr erstes Instrument war nicht die Gitarre, sondern die Geige, sie studierte an der Musikhochschule. Nach ihren Einflüssen gefragt, nennt sie so unterschiedliche Künstler wie Jimi Hendrix oder den Impressionisten Claude Debussy. Ein bisschen Hendrix hört man aus ihrem Gitarrenspiel auch heraus, durch ihre Songs spuken aber auch David Bowie, Post-Punk-Bands wie Siouxsie and the Banshees, der dunkle Pop von Nick Cave und vieles mehr. Und ihre Texte kreisen immer wieder um Themen von sexueller Identität. Calvi, die sich selbst nicht (nur) als Frau definiert, ist beides gleichzeitig: eine unorthodoxe Musikerin und eine Aktivistin.
Im Zelt erlebt das Publikum allerdings vor allem Ersteres: Die Musiker schleicht sich kommentarlos und cool zu ihren Mitmusikern Alex Thomas (Drums) und Mally Harpaz (vor allem Keyboards und Percussion) auf die Bühne und sagt auch danach nicht viel mehr als „Thank you“. Nicht arrogant, eher scheu. Calvi, mit langem Mantel und Hosenanzug, zerzaustem Haar und knallrotem Lippenstift, will lieber spielen als reden. Setzt mit der Gitarre mal nur sparsame verzerrte Töne und Akkorde, explodiert dann geradezu in den effektreichen Soli.
Ums Vorführen von Können geht es bei ihr nicht, sondern um Ausdruck, der durchaus auch mal theatralisch sein kann. Anna Calvi, die divenhaft fast immer eine Oktave unter ihrer Sprechstimme singt, ist beides, abweisend und verführerisch, schüchtern und gefährlich. Frau und/ oder Mann.
Wer ihre Songs schon gut kennt oder gut Englisch versteht, versteht auch diese Ebene ihrer Musik. Sie fragt in „As A Man“, einem zentralen Stück ihres aktuellen Albums „Hunter“, wie es wäre, ein Mann zu sein – in jeder Hinsicht, außer dem Körper. Oder sie fordert in „Don’t Beat The Girl Out Of My Boy“eine Abkehr vom binären Geschlechterdenken in der Erziehung. Schwierige Themen, in seltsame, komplexe und doch griffige Songs gekleidet.
Anna Calvi gehört zu einer neuen Generation von jungen (Indie-)Musikerinnen, die die E-Gitarre aus den Händen der viel zitierten alten weißen Männer zu zerren, die Rock jenseits von Rollenklischees und Posen neu definieren wollen. Man kommt ihr beim Zuhören im Zelt zwar nie wirklich nah, zu reserviert ist ihr Auftritt, man ist aber fasziniert von dieser Musikerin, bei der Schüchternheit und Gefühlsausbruch manchmal nur einen Saitenschlag voneinander entfernt sind. Ein mutiger und gelungener Auftakt der Saison.