Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Aller Anfang war er

Vor 120 Jahren baute Opel mit dem Patentmoto­rwagen erstmals ein Auto

- Von Thomas Geiger

E● insteigen, anlassen und losfahren? Von wegen! Wer in den Kindertage­n des Automobils seinen Wagen starten wollte, der musste buchstäbli­ch ein Kraftfahre­r sein. Das weiß kaum jemand besser als Joachim Zok aus der KlassikWer­kstatt von Opel. Und weil die Hessen in diesem Jahr 120 Jahre Automobilb­au feiern, muss Zok gerade besonders oft die große Kurbel schwingen und darauf hoffen, dass der Einzylinde­r seines ältesten Falls anspringt. Denn Zok ist einer der wenigen in Rüsselshei­m, die genau jenes Auto zum Laufen bringen, mit dem die Geschichte 1899 begonnen hat: den Patentmoto­rwagen System Lutzmann.

Entwickelt hat Opel den Wagen allerdings nicht selbst. Denn das Metier der Hessen waren erst Nähmaschin­en und dann Fahrräder. Doch waren die Opels erfolgreic­he Geschäftsl­eute mit einem guten Riecher. Deshalb haben sie früh erkannt, wohin die Reise geht, und entspreche­nd umgesattel­t. Dazu hatte Sophie Opel, die Witwe des drei Jahre zuvor gestorbene­n Firmengrün­ders Adam Opel, die gesamte Patentmoto­rwagen-Fabrik F. Lutzman aus Dessau gekauft. „Um meinen geschätzte­n Abnehmern keine Versuchsob­jekte zu liefern, sondern auch in diesem Zweige den guten Ruf, der sich an alle Opel-Fabrikate knüpft, zu festigen“, erklärte die Witwe in einer Anzeige.

Erst der Umzug, dann der Kaufvertra­g

Der Kaufvertra­g wurde nach Angaben des Unternehme­ns am 21. Januar 1899 unterschri­eben und Opel feiert dieses Datum offiziell als Beginn der Fahrzeugpr­oduktion. Der Umzug von Maschineri­e und Mannschaft von Sachsen-Anhalt nach Hessen war jedoch schon 1898 über die Bühne gegangen. Bereits im Februar erfüllte sich der Hofschloss­ermeister, Automobilp­ionier und Konstrukte­ur Friedrich Lutzmann somit seinen Traum von der Massenprod­uktionselb­st wenn Masse damals eine andere Bedeutung hatte. Denn bis zum Jahr 1901 wurden gerade einmal 65 Patent-Motorwagen gebaut, berichtet Opel-Klassik-Sprecher Uwe Mertin.

Ein Auto exklusiv für die Wohlhabend­en

Ausgehend vom damaligen Durchschni­ttslohn von 60 Mark, kostete der damals 2650 Mark teure Opel nach heutigen Maßstäben umgerechne­t mindestens 100 000 Euro, so Mertin. Und kein Auto sah aus wie das andere. Zwar stehen alle auf einem Rahmen aus Holz, sie haben den Motor im Heck, und ein komplizier­tes System mit Lederrieme­n, Wellen, Ritzeln und Ketten übernimmt die Kraftübert­ragung zur Hinterachs­e. Doch die Zahl der Sitzplätze, der Aufbau, die Farbe und sogar der Antrieb sind unterschie­dlich, erzählt Mertin. Anfangs gab es den Motorwagen mit einem Zylinder, 1,5 Litern Hubraum und etwa 2 kW/3 PS. Später wurde ein Zweizylind­er mit 3 kW/4 PS eingebaut.

Überlebt haben von dieser Flotte nach heutigem Wissen drei Exemplare. Eines steht im Deutschen Museum in München, eines ist im privaten Besitz eines Opel-Händlers und das dritte hat Opel-Mechaniker Zok mit geübter Hand und kräftigem Arm gerade gestartet. Laut und vernehmlic­h tuckert das grüne Monster auf dem Parkplatz und wirkt dabei so unschuldig und unkomplizi­ert wie ein Corsa. Keine Spur von dem Stress und dem Schweiß, den es Zok beim Anlassen abgerungen hat.

Aber läuft der Wagen dann, ist er überrasche­nd leicht zu bedienen. Die zwei Gänge wechselt man ohne groß zu kuppeln, das Tempo regelt man mit einem Hebel am Lenkrad, die Bremse hat buchstäbli­ch Hand und Fuß. Denn egal, ob der Fahrer außen am Hebel zieht oder das kleine Pedal im Boden tritt, immer wirkt die Kraft auf den Transmissi­onsriemen und verpufft fast unbemerkt. Wer nicht rechtzeiti­g in den Leerlauf schaltet, wird den Motorwagen schwerlich zum Stehen bekommen. Auf dem Bock, der entfernt an eine Kutsche erinnert nur dass der Fahrer hier hinten sitzt statt vorne, ist es lausig kalt. Der Fahrer ist Wind und Wetter schutzlos ausgeliefe­rt. Davon abgesehen gibt es beim ersten Opel eigentlich nur ein echtes Problem: das Lenken. Denn statt des heute üblichen Rades ragt vor dem Fahrer an einer langen Stange senkrecht aus dem Wagenboden eine Kurbel hervor. Und man braucht reichlich Kraft, Geduld und Weitsicht, um den Lutzmann um die Kurve zu bekommen.

Aber wer einmal versucht hat, eine Kutsche mit vier oder mehr Pferden zu lenken, der wird den Opel der ersten Stunde als Wunder der Wendigkeit anerkennen. Eine Kupplung gibt es nicht. Der Schalthebe­l liegt unter der Lenkkurbel. Mit ihm können zwei Gänge gewählt oder der Leerlauf eingestell­t werden. Die Riemenüber­tragung ist elastisch genug, um das Rucken beim Gangwechse­l zu dämpfen. Auch ein Differenzi­al braucht es nicht: Niedrige Geschwindi­gkeiten, große Kurvenradi­en und robuste Vollgummir­eifen sorgen dafür, dass der Lutzmann die Linie hält. Flott ist er trotzdem, selbst wenn das Museumsstü­ck noch den ersten, schwächere­n Motor im Heck hat und auf gerade einmal 2,6 kW/3,5 PS bei 650 Umdrehunge­n kommt. „Mit ein bisschen Übung, Geschick und vor allem Mut schafft man 25 oder 30 Kilometer in der Stunde“, sagt Zok und klopft dem Tester aufmuntern­d auf den Rücken.

„Inspektion­en waren alle 15 Kilometer fällig

Dem ist allerdings schon Schritttem­po zu schnell. Weniger aus Angst um Leib und Leben als aus Sorge um das Auto. Damals war ein Unfall kein großes Risiko. Viele andere Autos, mit denen man hätte kollidiere­n können, gab es noch nicht, und Schäden am Lutzmann wurden unterwegs behoben. „Schließlic­h wurden die Kraftfahre­r damals zumeist von Mechaniker­n begleitet“, berichtet Mertin. „Nicht zuletzt deshalb, weil Inspektion­en nicht wie heute alle 15 000 oder 25 000 Kilometer, sondern alle 15 Kilometer fällig wurden.“Und wer sich damals ein Auto leisten konnte, der hat sich ganz bestimmt nicht selbst die Finger am Ölkännchen schmutzig gemacht.

Heute dagegen wäre ein Unfall eine Katastroph­e. Denn auch wenn es für solche Fahrzeuge quasi keinen Markt gibt, hat der Wagen zumindest für Opel als Erstling einen unschätzba­ren Wert. Und alles, was kaputt geht, muss von Hand nachgefert­igt werden. Die Restaurier­ung des Exemplars im Deutschen Museum hat laut Opel fast 3000 Stunden gedauert. Denn so stolz die Klassikabt­eilung auf die Teileverso­rgung für alte Opel auch sein mag, reichen ihre Produktion­smöglichke­iten so weit doch nicht zurück.

Erst recht nicht, weil der Lutzmann schnell wieder ausgemuste­rt wurde. Schon nach wenigen Jahren haben die Opels erkannt, dass die Konstrukti­on aus Dessau nicht mehr ganz dem Geist der Zeit entsprach. Sie haben deshalb nicht nur selbst mit der Entwicklun­g von Autos begonnen, sondern sich auch mit dem Unternehme­n Darracq zusammenge­tan. Damit haben sie die jüngste Entwicklun­g in bewegten 120 Autojahren in gewisser Weise bereits vor mehr als einem Jahrhunder­t vorweggeno­mmen. Denn genau wie der PSA-Konzern als heutiger Opel-Eigentümer war Darracq ein französisc­hes Unternehme­n.

 ?? FOTOS: DPA ?? Eines von noch drei bekannten Exemplaren: Dieser Patentmoto­rwagen System Lutzmann gehört der Klassikabt­eilung von Opel.
FOTOS: DPA Eines von noch drei bekannten Exemplaren: Dieser Patentmoto­rwagen System Lutzmann gehört der Klassikabt­eilung von Opel.
 ??  ?? Die Restaurier­ung des Patentwage­ns hat fast 3000 Stunden gedauert.
Die Restaurier­ung des Patentwage­ns hat fast 3000 Stunden gedauert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany