Aller Anfang war er
Vor 120 Jahren baute Opel mit dem Patentmotorwagen erstmals ein Auto
E● insteigen, anlassen und losfahren? Von wegen! Wer in den Kindertagen des Automobils seinen Wagen starten wollte, der musste buchstäblich ein Kraftfahrer sein. Das weiß kaum jemand besser als Joachim Zok aus der KlassikWerkstatt von Opel. Und weil die Hessen in diesem Jahr 120 Jahre Automobilbau feiern, muss Zok gerade besonders oft die große Kurbel schwingen und darauf hoffen, dass der Einzylinder seines ältesten Falls anspringt. Denn Zok ist einer der wenigen in Rüsselsheim, die genau jenes Auto zum Laufen bringen, mit dem die Geschichte 1899 begonnen hat: den Patentmotorwagen System Lutzmann.
Entwickelt hat Opel den Wagen allerdings nicht selbst. Denn das Metier der Hessen waren erst Nähmaschinen und dann Fahrräder. Doch waren die Opels erfolgreiche Geschäftsleute mit einem guten Riecher. Deshalb haben sie früh erkannt, wohin die Reise geht, und entsprechend umgesattelt. Dazu hatte Sophie Opel, die Witwe des drei Jahre zuvor gestorbenen Firmengründers Adam Opel, die gesamte Patentmotorwagen-Fabrik F. Lutzman aus Dessau gekauft. „Um meinen geschätzten Abnehmern keine Versuchsobjekte zu liefern, sondern auch in diesem Zweige den guten Ruf, der sich an alle Opel-Fabrikate knüpft, zu festigen“, erklärte die Witwe in einer Anzeige.
Erst der Umzug, dann der Kaufvertrag
Der Kaufvertrag wurde nach Angaben des Unternehmens am 21. Januar 1899 unterschrieben und Opel feiert dieses Datum offiziell als Beginn der Fahrzeugproduktion. Der Umzug von Maschinerie und Mannschaft von Sachsen-Anhalt nach Hessen war jedoch schon 1898 über die Bühne gegangen. Bereits im Februar erfüllte sich der Hofschlossermeister, Automobilpionier und Konstrukteur Friedrich Lutzmann somit seinen Traum von der Massenproduktionselbst wenn Masse damals eine andere Bedeutung hatte. Denn bis zum Jahr 1901 wurden gerade einmal 65 Patent-Motorwagen gebaut, berichtet Opel-Klassik-Sprecher Uwe Mertin.
Ein Auto exklusiv für die Wohlhabenden
Ausgehend vom damaligen Durchschnittslohn von 60 Mark, kostete der damals 2650 Mark teure Opel nach heutigen Maßstäben umgerechnet mindestens 100 000 Euro, so Mertin. Und kein Auto sah aus wie das andere. Zwar stehen alle auf einem Rahmen aus Holz, sie haben den Motor im Heck, und ein kompliziertes System mit Lederriemen, Wellen, Ritzeln und Ketten übernimmt die Kraftübertragung zur Hinterachse. Doch die Zahl der Sitzplätze, der Aufbau, die Farbe und sogar der Antrieb sind unterschiedlich, erzählt Mertin. Anfangs gab es den Motorwagen mit einem Zylinder, 1,5 Litern Hubraum und etwa 2 kW/3 PS. Später wurde ein Zweizylinder mit 3 kW/4 PS eingebaut.
Überlebt haben von dieser Flotte nach heutigem Wissen drei Exemplare. Eines steht im Deutschen Museum in München, eines ist im privaten Besitz eines Opel-Händlers und das dritte hat Opel-Mechaniker Zok mit geübter Hand und kräftigem Arm gerade gestartet. Laut und vernehmlich tuckert das grüne Monster auf dem Parkplatz und wirkt dabei so unschuldig und unkompliziert wie ein Corsa. Keine Spur von dem Stress und dem Schweiß, den es Zok beim Anlassen abgerungen hat.
Aber läuft der Wagen dann, ist er überraschend leicht zu bedienen. Die zwei Gänge wechselt man ohne groß zu kuppeln, das Tempo regelt man mit einem Hebel am Lenkrad, die Bremse hat buchstäblich Hand und Fuß. Denn egal, ob der Fahrer außen am Hebel zieht oder das kleine Pedal im Boden tritt, immer wirkt die Kraft auf den Transmissionsriemen und verpufft fast unbemerkt. Wer nicht rechtzeitig in den Leerlauf schaltet, wird den Motorwagen schwerlich zum Stehen bekommen. Auf dem Bock, der entfernt an eine Kutsche erinnert nur dass der Fahrer hier hinten sitzt statt vorne, ist es lausig kalt. Der Fahrer ist Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Davon abgesehen gibt es beim ersten Opel eigentlich nur ein echtes Problem: das Lenken. Denn statt des heute üblichen Rades ragt vor dem Fahrer an einer langen Stange senkrecht aus dem Wagenboden eine Kurbel hervor. Und man braucht reichlich Kraft, Geduld und Weitsicht, um den Lutzmann um die Kurve zu bekommen.
Aber wer einmal versucht hat, eine Kutsche mit vier oder mehr Pferden zu lenken, der wird den Opel der ersten Stunde als Wunder der Wendigkeit anerkennen. Eine Kupplung gibt es nicht. Der Schalthebel liegt unter der Lenkkurbel. Mit ihm können zwei Gänge gewählt oder der Leerlauf eingestellt werden. Die Riemenübertragung ist elastisch genug, um das Rucken beim Gangwechsel zu dämpfen. Auch ein Differenzial braucht es nicht: Niedrige Geschwindigkeiten, große Kurvenradien und robuste Vollgummireifen sorgen dafür, dass der Lutzmann die Linie hält. Flott ist er trotzdem, selbst wenn das Museumsstück noch den ersten, schwächeren Motor im Heck hat und auf gerade einmal 2,6 kW/3,5 PS bei 650 Umdrehungen kommt. „Mit ein bisschen Übung, Geschick und vor allem Mut schafft man 25 oder 30 Kilometer in der Stunde“, sagt Zok und klopft dem Tester aufmunternd auf den Rücken.
„Inspektionen waren alle 15 Kilometer fällig
Dem ist allerdings schon Schritttempo zu schnell. Weniger aus Angst um Leib und Leben als aus Sorge um das Auto. Damals war ein Unfall kein großes Risiko. Viele andere Autos, mit denen man hätte kollidieren können, gab es noch nicht, und Schäden am Lutzmann wurden unterwegs behoben. „Schließlich wurden die Kraftfahrer damals zumeist von Mechanikern begleitet“, berichtet Mertin. „Nicht zuletzt deshalb, weil Inspektionen nicht wie heute alle 15 000 oder 25 000 Kilometer, sondern alle 15 Kilometer fällig wurden.“Und wer sich damals ein Auto leisten konnte, der hat sich ganz bestimmt nicht selbst die Finger am Ölkännchen schmutzig gemacht.
Heute dagegen wäre ein Unfall eine Katastrophe. Denn auch wenn es für solche Fahrzeuge quasi keinen Markt gibt, hat der Wagen zumindest für Opel als Erstling einen unschätzbaren Wert. Und alles, was kaputt geht, muss von Hand nachgefertigt werden. Die Restaurierung des Exemplars im Deutschen Museum hat laut Opel fast 3000 Stunden gedauert. Denn so stolz die Klassikabteilung auf die Teileversorgung für alte Opel auch sein mag, reichen ihre Produktionsmöglichkeiten so weit doch nicht zurück.
Erst recht nicht, weil der Lutzmann schnell wieder ausgemustert wurde. Schon nach wenigen Jahren haben die Opels erkannt, dass die Konstruktion aus Dessau nicht mehr ganz dem Geist der Zeit entsprach. Sie haben deshalb nicht nur selbst mit der Entwicklung von Autos begonnen, sondern sich auch mit dem Unternehmen Darracq zusammengetan. Damit haben sie die jüngste Entwicklung in bewegten 120 Autojahren in gewisser Weise bereits vor mehr als einem Jahrhundert vorweggenommen. Denn genau wie der PSA-Konzern als heutiger Opel-Eigentümer war Darracq ein französisches Unternehmen.