Breite Kritik an Sterbehilfe-Urteil
Verfassungsgericht erlaubt organisierte Suizidbeihilfe – Spahn will Neuregelung
KARLSRUHE/BERLIN - Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch das Gesetz zur Suizidbeihilfe gekippt, welches vor allem die Arbeit von Sterbehilfevereinen stoppen sollte. Das 2015 verhängte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung widerspricht demnach dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, erklärte Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Dieses Recht gelte für alle – nicht nur für Kranke.
Die beiden großen Kirchen, Patientenschützer, Lebensschützer sowie Palliativmediziner kritisierten den Richterspruch als „Zäsur“. Der Rottenburg-Stuttgarter Bischof Gebhard Fürst warnte, die Entscheidung erhöhe den „inneren und äußeren Druck auf Alte, Schwerkranke und Pflegebedürftige, von der Option der geschäftsmäßigen Sterbehilfe Gebrauch zu machen, um keine Last für die Angehörigen zu sein“.
Ähnlich äußerte sich Frank Otfried July, Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. „Ich bedauere es, dass das Bundesverfassungsgericht die Tür für eine geschäftsmäßige Sterbehilfe weiter geöffnet hat.“Auch Ethikrat, Palliativ-Stiftung und Stiftung Patientenschutz
kritisierten die Entscheidung. Die Selbsttötung werde damit zur selbstverständlichen Therapieoption, hieß es.
Unterdessen hat in der Politik die Debatte um eine Neuregelung des für nichtig erklärten Paragrafen begonnen. Die Richter hatten in ihrer Stellungnahme dem Staat ausdrücklich das Recht eingeräumt, die Sterbehilfe neu zu organisieren. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte noch am Mittwochabend Gespräche über eine Neuregulierung der vom Gericht grundsätzlich erlaubten organisierten Suizidassistenz an. Er werde mit allen Beteiligten sprechen, um eine verfassungsgerechte Lösung zu finden, sagte Spahn in Berlin.
Auch im Bundestag gibt es Forderungen nach Reformen: „Wir müssen nun verhindern, dass aus geschäftsmäßig gewerbsmäßig wird“, sagte der CDU-Rechtspolitiker Axel Müller der „Schwäbischen Zeitung“. Aus der Absicht zur Selbsttötung dürfe kein Geschäft werden, warnte er. Die FDP kündigte einen fraktionsübergreifenden Antrag für ein „liberales Sterbehilfegesetz“an. Die Bundesärztekammer forderte den Gesetzgeber zum Handeln auf. Eine Regulierung der Beihilfe zur Selbsttötung sei notwendig, erklärte Ärztekammerpräsident Klaus Reinhardt. Gleichzeitig kündigte er eine Debatte über das ärztliche Berufsrecht an, das Mitwirkung beim Suizid bislang verbietet.
RAVENSBURG - Als Jurist, katholischer Christ und CDU-Bundestagsabgeordneter hat Axel Müller verschiedene Sichtweisen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe. Als ehemaliger Richter versteht er die Entscheidung, das Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe zu kippen. Als Christ lehnt er sie persönlich für sich ab. Und als Rechtspolitiker im Bundestag hat er nun mit den Folgen zu tun. Mit dem Politiker aus Weingarten sprach Klaus Wieschemeyer.
Herr Müller, das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben. Sie waren selbst lange Richter, unter anderem in Ravensburg und Tettnang. Hätten Sie anders entschieden?
Als Jurist habe ich erwartet, dass die Richter so entscheiden werden. Wenn das Gericht das selbstbestimmte Sterben als wichtigen Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wertet, sind damit die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes betroffen, also die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Als Christ tue ich mich mit dieser Entscheidung dagegen schwer. Allerdings muss ich zugeben, dass ich noch nie in einer solchen persönlichen Ausnahmesituation war.
Die katholische Kirche, in der Sie aktiv sind, spricht von „Zäsur“. Der Leiter des katholischen Büros, Prälat Karl Jüsten, sieht gar die bisherige Gewissheit erschüttert, dass das menschliche Leben in all seinen Phasen vom Staat geschützt wird.
Aus Sicht der christlichen Lehre ist einem das Leben von Gott gegeben und Teil der Schöpfung. Es gehört damit nicht nur einem selbst, sondern auch Gott und den Mitmenschen und sollte deshalb nicht von einem selbst beendet werden. Deshalb ist ein solcher Schritt für mich nicht denkbar. Aber ich habe höchsten Respekt vor Menschen, die diesen Weg gehen wollen. Ich habe einen entsprechenden Fall in meinem Wahlkreis: Ich habe diesem Menschen gesagt, dass dies auch angesichts der Fortschritte in der Palliativmedizin nicht mein Weg wäre.
Und aus juristischer Sicht?
Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und den Rechten des Staates. Bei zentralen Freiheitsrechten muss der Staat sich zurücknehmen und hat nicht einzugreifen. Dazu zählt das Gericht die Entscheidung, ob jemand sterben möchte.
Sehen Sie in der Entscheidung wie Jüsten eine Zäsur?
Nein, denn wir hatten in dieser Angelegenheit im Grunde genommen schon immer ein recht liberales Strafrecht. Die Beihilfe zur Selbsttötung war schon früher nicht strafbar, sondern nur die Tötung auf Verlangen.
Der Gesetzgeber hat dann 2015 den Paragraph 217 Strafgesetzbuch geschaffen, um den Sterbehilfevereinen einen Riegel vorzuschieben.
Das ist jetzt gescheitert. Die AfDPolitikerin Beatrix von Storch sieht damit gar das Tor zu einer
„Kultur des Tötens“in Deutschland aufgestoßen …
Um im Bild zu bleiben: Es wurde kein Tor geöffnet. In der letzten Wahlperiode wurde vielmehr ein Türchen, das bereits geöffnet war, mit dem Paragrafen 217 verschlossen. Nun haben die Richter gesagt: Das Türchen muss geöffnet bleiben. Die Entscheidung bedeutet, dass Vereine andere bei der Umsetzung eines solchen Entscheides unterstützen dürfen. Doch weder muss der Staat dies aktiv fördern noch können Ärzte in die Pflicht genommen werden, beim Suizid zu helfen.
Doch geschäftsmäßige Sterbehilfe ist nun ausdrücklich erlaubt.
Es gibt einen Unterschied zwischen geschäftsmäßiger und gewerbsmäßiger Sterbehilfe. Das erste umfasst Vereine, die ohne Gewinnabsicht beraten. Wir müssen nun verhindern, dass aus geschäftsmäßig gewerbsmäßig wird. Aus der Absicht zur Selbsttötung darf kein Geschäft werden.
Was wird der Bundestag jetzt machen?
Ich gehe davon aus, dass wir noch in dieser Legislaturperiode eine Neufassung auf den Weg bringen. Da warten wir nun auf eine Einschätzung des Justizministeriums. Der Paragraph 217 ist hinfällig, das müssen wir jetzt reparieren. Wir sollten dabei sicherstellen, dass der Lebensschutz gewahrt bleibt. Die Sterbehilfe-Vereine haben eine hohe Verantwortung, dass sich nur Menschen in freier Selbstbestimmung und bei klarem Verstand zu diesem Schritt entschließen.