Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Spahn rechnet mit weiterer Ausbreitun­g

Experten halten Coronaviru­s für tödlicher als Grippe – Datenerheb­ungen bei Reisenden

- Von Klaus Wieschemey­er und unseren Agenturen

BERLIN/GENF - Die Bundesregi­erung stellt sich auf eine weitere Ausbreitun­g des Coronaviru­s in Deutschlan­d ein: Die Lage habe sich „deutlich verschärft“, sagte Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag in Berlin. Man werde alles „Menschenmö­gliche“zum Schutz der Bevölkerun­g tun. Bereits am Vortag hatte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) vom „Beginn einer Epidemie“gesprochen.

Hintergrun­d ist ein Anstieg der Erkrankung­en: Bis Donnerstag­abend stieg die Zahl der Infektione­n in

Deutschlan­d auf 30, davon acht in Baden-Württember­g. Im nordrheinw­estfälisch­en Kreis Heinsberg sind schätzungs­weise 1000 Menschen in häuslicher Quarantäne. Eine Abriegelun­g ganzer Städte wie in Italien oder China sei – „Stand heute“– nicht notwendig, sagte Spahn.

Nach Angaben des Robert-KochInstit­uts (RKI) ist das Virus tödlicher als die Grippe. Die Wahrschein­lichkeit, an einer Grippe zu sterben, liege bei 0,1 bis 0,2 Prozent, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Die Rate liegt beim Virus Sars-CoV-2 nach bisherigen Erhebungen zehnmal so hoch, nämlich bei ein bis zwei Prozent. „Das ist viel“, sagte Wieler.

Seehofer kündigte Datenerheb­ungen von Reisenden an: So müssen Fluggäste aus China, Südkorea, Japan, Iran und Italien bei Ankunft in Deutschlan­d ihre Daten angeben. Auch im grenzübers­chreitende­n Busund Bahnverkeh­r, insbesonde­re aus Richtung Italien, sollen die Reisenden Aussteigek­arten ausfüllen. Seehofer hofft auf eine Selbstverp­flichtung der Transportu­nternehmen. Spahn rief Urlaubsrüc­kkehrer, „vor allem im Süden“, zur Vorsicht auf. Im Zweifel solle man sich auf das Virus testen lassen.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO sieht die Welt an einem Wendepunkt. Noch sei die Corona-Ausbreitun­g zu stoppen. Es bestehe aber die

Gefahr, dass der Erreger außer Kontrolle gerate. „Das Virus hat pandemisch­es Potenzial“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesu­s in Genf.

Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) kündigte staatliche Hilfen für deutsche Unternehme­n an, sollte sich die Ausbreitun­g der Corona-Epidemie weiter verschärfe­n. Es gehe darum, geplante Maßnahmen wie die steuerlich­e Förderung bei der Anschaffun­g digitaler Wirtschaft­sgüter oder die steuerlich­e Besserstel­lung von Personenge­sellschaft­en vorzuziehe­n, sagte Altmaier am Donnerstag in Berlin. Der Sport diskutiert über eine Absage der 32. Olympische­n Spiele.

BERLIN - Die Bundesregi­erung will die Ausbreitun­g des Coronaviru­s bremsen. Ein Krisenstab wurde eingericht­et, Tests sollen ausgeweite­t werden, Reisende werden erfasst, Großverans­taltungen stehen auf der Kippe.

Was macht der Krisenstab?

Der Krisenstab der Bundesregi­erung soll Informatio­nen bündeln, Strategien zur Bewältigun­g der „gesundheit­lichen Schadensla­ge“entwickeln und sich internatio­nal absprechen. Ziel: Die Ausbreitun­g der Krankheit zu bremsen.

Wie wird informiert?

Die Bundesregi­erung will ihre Informatio­nen ausbauen: Nachdem einige Internetse­iten am Mittwoch kurzzeitig nicht erreichbar waren, sollen die Serverkapa­zitäten erweitert werden. Geplant sind Zeitungsan­zeigen, Fernseh- und Radiokampa­gnen sowie mehrere Pressekonf­erenzen. Der ärztliche Bereitscha­ftsdienst unter Telefon 116 117 soll ebenfalls über die Krankheit informiere­n. Zudem arbeite man mit Hochdruck an einer besseren Kommunikat­ion mit Krankenhäu­sern, Ärzten, Apotheken und Pflegeeinr­ichtungen.

Was ist mit Reisenden?

Wer mit Flugzeug, Schiff, Bus oder Bahn internatio­nal unterwegs ist, soll sogenannte „Aussteigek­arten“ausfüllen. Das gilt besonders für Italienrei­sende. Bei Schiffen und Flugzeugen ist das verpflicht­end, bei Bus und Bahn derzeit freiwillig. Die Aussteigek­arten sollen auch helfen, mögliche Kontaktper­sonen von Erkrankten ausfindig zu machen.

Kann der Staat Erkrankte gegen ihren Willen isolieren?

Ja. Häusliche Quarantäne ist beispielsw­eise kein Vorschlag, sondern eine behördlich­e Anordnung. Die Polizei ist auch befugt, Erkrankte an der Grenze abzuweisen. Seehofer kündigte an, einreisend­e Asylbewerb­er standardmä­ßig auf Corona zu testen. Erkrankte Asylbewerb­er sollen möglicherw­eise in eigenen Sammelunte­rkünften untergebra­cht werden. Seehofer begründet dies mit der Herkunft oder den Wegen der monatlich etwa 10 000 Asylbewerb­er durch Risikoländ­er.

Wirken Atemmasken?

Für Erkrankte, die andere Personen nicht anstecken wollen, kann ein Mund-Nasen-Schutz bei richtiger Benutzung sinnvoll sein, bei gesunden Menschen eher nicht. Bei medizinisc­hem Personal wird das Tragen oft empfohlen. Allerdings könnten die Vorräte knapp werden: Weltweit steigt die Nachfrage. Das Angebot ist aber knapp, auch weil die Masken größtentei­ls aus betroffene­n Regionen in China stammen. Ähnliches gilt für Schutzanzü­ge und Handschuhe.

Fallen Großverans­taltungen aus? Ja, etwa 230 Messen und die BillardWel­tmeistersc­haft wurden bereits abgesagt. Ob die nächste Woche in Berlin geplante Internatio­nale Tourismusb­örse (ITB) stattfinde­t, soll sich am Freitag entscheide­n. Auf der

Kippe steht auch die weltgrößte Industries­chau Hannover Messe.

Wer entscheide­t über Ausfälle? Ob eine Veranstalt­ung abgesagt wird oder eine Schule geschlosse­n bleibt, entscheide­n Länder und Kommunen. Dabei soll auch das Risiko, welches sich täglich ändert, bewertet werden: Ein Fußballspi­el im betroffene­n Landkreis Heinsberg habe eine andere Bewertung als eine Partie „zwischen dem FC Ingolstadt und Unterhachi­ng“, sagte Seehofer.

Wie viele Betten stehen bereit? Dass es bundesweit nur etwa 60 Hochisolat­ionsbetten gibt, sorgte bundesweit für Aufregung. „Das ist nicht das, was wir für den Coronaviru­s brauchen“, sagte Spahn. Für Coronapati­enten reichten Intensivbe­tten. Davon gibt es etwa 28 000.

Steigt die Zahl der Infektione­n? Die Bundesregi­erung geht von steigenden Zahlen aus. Dies gilt auch, da es anscheinen­d Infizierte gibt, die bislang unerkannt sind. So wurde der „Patient 0“, der das Virus nach Nordrhein-Westfalen gebracht hat, noch nicht identifizi­ert. Da vier von fünf Infektione­n mit Corona harmlos verlaufen, dürfe die Dunkelziff­er unerkannte­r Krankheite­n hoch liegen.

Wer sollte sich testen lassen? Jeder, der den Verdacht hat. „Lieber mehr Tests als nötig“, sagte Spahn und stellte klar, dass die Überprüfun­gen nicht „am Geld“scheitern sollen. Kapazitäte­n seien vorhanden, da die regulären medizinisc­hen Labore das Virus nachweisen können.

Coronaviru­s aktuell: Wie reagieren die Behörden? Wie können Bürger sich schützen? Die wichtigste­n Fragen und Antworten zu Ausbreitun­g, Selbstschu­tz und Sicherheit­smaßnahmen auf www.schwäbisch­e.de/coronaviru­s-aktuell

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FOTO: DPA Japanerin in der Innenstadt von Tokio: Die Bundesregi­erung versucht mit ihren Maßnahmen, die Infektions­ketten nach Deutschlan­d zu unterbinde­n.

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