Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Verbände geißeln Rassismus

Migrantenv­ertreter fordern konkrete Schritte von Merkel

- Von Anne-Beatrice Clasmann (dpa) und Stefan Kegel

BERLIN (dpa) - Nach dem mutmaßlich rassistisc­h motivierte­n Anschlag von Hanau erwartet die Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) konkrete Schritte. „Die Würde des Menschen ist nicht gleicherma­ßen unantastba­r für alle Menschen in Deutschlan­d 2020“, schrieb das Netzwerk in einem veröffentl­ichten Brief an Merkel. Der Konferenz gehören nach eigenen Angaben 40 Migranteno­rganisatio­nen an. „Deutschlan­d hat ein Rassismusp­roblem“, sagte Farhad Dilmaghani, der die Initiative Deutschplu­s leitet, die sich für Vielfalt engagiert. Er stellte die Forderunge­n am Donnerstag vor.

Ein Viertel der Bevölkerun­g habe einen Migrations­hintergrun­d und fürchte „um seine Unversehrt­heit, um seine Zukunft und die seiner Kinder“, schrieben die Migrantenv­ertreter. Sie nahmen auch auf die gerade aufgefloge­ne mutmaßlich­e rechte Terrorzell­e „Gruppe S.“Bezug.

GBERLIN - Tobias R. ist bei seinem Anschlag im hessischen Hanau mit mehreren Toten trotz seiner psychische­n Erkrankung sehr kalkuliert und kaltblütig vorgegange­n. Wie die Mitglieder des Innenaussc­husses des Bundestage­s am Donnerstag berichtete­n, war er etwa eine Stunde vor Abgabe des ersten Schusses in der Nähe des ersten Tatorts von einem Mitarbeite­r des Ordnungsam­tes angesproch­en worden, weil sein Auto auf einem Behinderte­nparkplatz stand. Er habe nicht aggressiv reagiert und sein Fahrzeug umgeparkt, erfuhren die Sitzungste­ilnehmer von Generalbun­desanwalt Peter Frank.

Hinweise über mögliche Mitwisser oder Unterstütz­er gebe es bislang nicht, berichtete­n die Abgeordnet­en weiter. Allerdings warteten die Ermittler noch auf Auskünfte des FBI zu möglichen Kontakten von Tobias R. während einer Reise in die USA im November 2018.

Den Angaben zufolge erschoss Tobias R. am Mittwoch vergangene­r Woche in Hanau innerhalb von rund zwölf Minuten neun Menschen. Er suchte offensicht­lich gezielt Menschen mit ausländisc­hen Wurzeln als Opfer aus, kundschaft­ete die ShishaBars, in denen er später tötete, vorher aus. Er sei „sehr strategisc­h und planvoll vorgegange­n“, sagte Konstantin von Notz (Grüne).

Die Abgeordnet­en berichtete­n unter Berufung auf Frank, der Attentäter habe um 21.58 Uhr zuerst einen Menschen auf der Straße erschossen. Dann sei er geflohen und habe unterwegs einen zweiten Menschen getötet, bevor er weiter zur Bar Midnight fuhr und dort vier Schüsse durch die Tür abgab. Unterdesse­n gingen die ersten Notrufe bei der Polizei ein. Um 22.03 Uhr sei der erste Einsatzwag­en am ersten Tatort gewesen, hieß es. An der Bar Midnight sei ein Mensch gestorben. Als er weiterfuhr, tötete der Mann demnach einen weiteren Menschen. Im Vorraum eines Kiosks habe er dann vier Menschen getötet. In der benachbart­en Arena Bar gab es demnach einen Toten und mehrere Verletzte.

Um 22.10 Uhr sei der Todesschüt­ze dann mit dem Auto zur Wohnung seiner Eltern gefahren. Dort soll sein Auto – nach Auswertung einer Videoaufna­hme und Kennzeiche­n-Abfrage – um 23.10 Uhr festgestel­lt worden sein. Wie ein Abgeordnet­er berichtete, klingelte die Polizei erst vergeblich an der Tür. Dann sei eine

Drohne losgeschic­kt worden, um durch das Fenster schauen zu können. Das Spezialein­satzkomman­do sei um 3.03 Uhr in die Wohnung eingedrung­en, berichtete­n mehrere Teilnehmer der Sitzung.

Ihren Angaben zufolge lag die Mutter tot im Wohnzimmer. Die Leiche von Tobias R. sei am Kellerabga­ng gefunden worden. Die Grünen fragten, warum es so lange gedauert habe, bis die Polizei zugriff. „Offen bleibt derzeit die Frage, warum die hessische Polizei nicht sofort die zuständige­n Anti-Terror-Einheiten des Bundes gerufen hat“, sagte der CDUInnenpo­litiker Marian Wendt.

Der innenpolit­ische Sprecher der Unionsfrak­tion, Mathias Middelberg (CDU), sagte, er sehe „eine ganz klare Mitverantw­ortung“der AfD für die rechtsextr­emistisch motivierte­n Anschläge der vergangene­n Monate. Sie habe zu einer Radikalisi­erung in der Gesellscha­ft beigetrage­n und solle sich jetzt „nicht herausrede­n“. Die Abgeordnet­e Martina Renner (Linke) gab der AfD und der islamfeind­lichen Pegida-Bewegung aus Dresden eine Mitverantw­ortung. Sie hätten „die Opfer markiert“, die dann von Neonazis und bewaffnete­n Rassisten ermordet worden seien.

Der 43-jährige Tobias R. besaß eine Waffenerla­ubnis. Abgeordnet­e der Union regten an herauszufi­nden, ob die Vorschrift­en zur Überprüfun­g von Waffenbesi­tzern in den Ländern richtig umgesetzt werden. Vorher sei es nicht sinnvoll, über eine Verschärfu­ng des Waffenrech­ts zu sprechen, sagte die Ausschussv­orsitzende Andrea Lindholz (CSU).

Die Polizei fand nach Angaben von Teilnehmer­n der Sitzung drei Schusswaff­en: eine lag im Auto, eine bei der Leiche von Tobias R., eine weitere an einem anderen Ort in der Wohnung. Die Abgeordnet­en erfuhren, der Todesschüt­ze habe insgesamt 52 Schuss abgegeben. Im Wagen lagen noch 18 weitere Patronen. In einem Rucksack in seinem Zimmer fanden Ermittler demnach später noch 350 Patronen. Tobias R. litt offensicht­lich unter Wahnvorste­llungen. Er hatte im November 2019 ein Schreiben an den Generalbun­desanwalt geschickt, in dem er erklärte, er werde illegal überwacht.

Die Sondersitz­ung des Innenaussc­husses begann mit einer Gedenkminu­te für die Opfer des Anschlags. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) sagte, es gebe aktuell eine „hohe Bedrohungs­lage“durch Rechtsextr­emismus, Antisemiti­smus und Islamfeind­lichkeit. Er sei jetzt im Gespräch mit islamische­n Gemeinden dazu, wie Moscheen am besten geschützt werden könnten. Helge Lindh (SPD) schlug die Benennung eines Anti-Rassismus-Beauftragt­en der Bundesregi­erung vor.

Die Polizei stuft derzeit bundesweit 59 Menschen als rechtsextr­emistische Gefährder ein. Das sind Menschen, denen man eine schwere staatsgefä­hrdende Straftat zutraut, bis hin zu einem Anschlag. Weitere 126 Menschen gelten als „relevante Personen“im rechtsextr­emen Spektrum.

Der FDP-Obmann im Innenaussc­huss, Benjamin Strasser, wies darauf hin, dass Tobias R. sich im Internet radikalisi­ert habe. Er forderte, „die Analysefäh­igkeit der Behörden zu stärken, um diesen Typus von Rechtsterr­oristen besser auf ihr Radar bekommen.“

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA Gedenken an die Getöteten am Hanauer Marktplatz.

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