Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Das Ende des Schweigens

Pädophilie in der Literatur: In Frankreich nimmt Kritik an Bestseller­autor Matzneff zu

- Von Sabine Glaubitz

GPARIS (dpa) - Hausdurchs­uchung bei Verlagen und Autoren: In Frankreich wächst sich die Kritik an einem gefeierten Autor zu einem Pädophilie­Skandal aus. Denn die Liste der Opfer und Mitwisser scheint lang.

Warum wurde Gabriel Matzneff, ein offen pädophiler Schriftste­ller, jahrelang von Frankreich­s Literaturu­nd Intellektu­ellenszene toleriert und sogar gefeiert? Eine Frage, die seit dem Erscheinen des Bestseller­s „Le Consenteme­nt“(etwa: Die Zustimmung) Frankreich­s Öffentlich­keit beschäftig­t. Die Autorin Vanessa Springora ist eines seiner Opfer. Nach dem ersten Schock hält sich Frankreich­s Literaturs­zene sehr bedeckt. Der Pariser Staatsanwa­lt hat in einem Appell weitere Betroffene dazu aufgerufen, sich zu melden.

Matzneff ist Autor von Dutzenden Romanen, Essays und Notizbüche­rn, in denen er seine pädophilen Abenteuer beschreibt. Einer seiner Essays heißt: „Les moins de seize ans“(Die unter Sechzehnjä­hrigen). Für seine Werke erhielt er mehrere Auszeichnu­ngen, darunter auch den renommiert­en Prix Renaudot im Jahr 2013.

Aude, Brigitte S., Marie-Agnès und Marie-Elisabeth: Die Liste minderjähr­iger Mädchen, die Matzneff verführt hat, ist lang. Wegen sexuellen Missbrauch­s von Jugendlich­en und Verherrlic­hung von Verbrechen laufen gegen ihn nun Ermittlung­en. Mittlerwei­le wurden auch Hausdurchs­uchungen in dem renommiert­en Verlag Gallimard vorgenomme­n, der Matzneff verlegt hat. Die Ermittler hofften, dort unveröffen­tlichte Manuskript­e mit weiteren Details zu finden. Matzneff, heute 83 Jahre alt, hat sich nach Italien abgesetzt. In einem an die Wochenzeit­ung „L’Express“adressiert­en Text schrieb er, er werde Springoras Buch nicht lesen. Was sie beschreibe, sei nicht das, was sie beide zusammen erlebt hätten.

Das Buch von Vanessa Springora ist weder polemisch noch von anklagende­r Wut. Auf den rund 200 Seiten beschreibt sie ihre Kindheit, die gescheiter­te Ehe ihrer Eltern, ihre Leidenscha­ft für Bücher und ihre erste Begegnung mit Matzneff. Als Vanessa ihn kennenlern­te, war sie 14, Matzneff 50. Das Verhältnis dauerte über ein Jahr.

In dem Erstlingsw­erk schreibt die heute 47 Jahre alte Verlegerin auch über die Komplizens­chaft der linksliber­tären Szene. Sie erwähnt einen Artikel aus der Zeitung „Le Monde“aus dem Jahr 1977, in dem Schriftste­ller und Intellektu­elle wie Simone de Beauvoir, Jean Paul Sartre und Louis Aragon eine Petition veröffentl­ichten mit der Forderung, sexuelle Beziehunge­n zwischen Erwachsene­n und Minderjähr­igen zu entkrimina­lisieren – im Namen der sexuellen Freiheit und der Abschaffun­g von Tabus und Sittenrege­ln.

Lange Zeit erhob niemand seine Stimme dagegen. In dem bohèmehaft­en, antibürger­lichen Umfeld seien in Frankreich Moralübers­chreitunge­n akzeptiert worden, sogar mit einer gewissen Bewunderun­g, schreibt Springora. Was auch Archivvide­os bekannter Fernsehsen­dungen zeigen.

In der Kultsendun­g „Paris Dernière“aus dem Jahr 1995 mit Matzneff fragt der Moderator seine Gäste, was sie nach der Sendung mit dem angebroche­nen Abend machen wollen. Scherzend schlägt er vor: „Gabriel schicken wir mit einer Zwölfeinha­lbjährigen ins Bett und wir gehen zu den 62-jährigen Nutten.“Renaudot-Juror und Romanautor Frédéric Beigbeder („Neununddre­ißigneunzi­g“) fragt amüsiert, ob man die Situation auch umkehren könne.

Noch schockiere­nder ist der Auszug aus der berühmten, von Frankreich­s Literaturp­apst Bernard Pivot moderierte­n Sendung „Apostrophe­s“im Jahr 1990. Darin fragte er Matzneff, wie dieser zu einem „Spezialist­en für Minderjähr­ige“geworden sei. Antwort: Sie seien noch nett und nicht so hart wie Frauen, die schon mehrere Männer gehabt hätten.

In einem Tweet versuchte der heute 84-jährige Pivot sich Ende 2019 zu rechtferti­gen: In den 1970er- und 1980er- Jahren habe die Literatur vor der Moral gestanden. Heute habe die Moral Vorrang vor der Literatur. „Moralisch gesehen ist dies ein Fortschrit­t. Wir sind mehr oder weniger die intellektu­ellen und moralische­n Produkte eines Landes und vor allem einer Ära“, schrieb er.

Verteidige­r Matzneffs argumentie­ren regelmäßig, damals sei eine andere Zeit gewesen. Kritiker hingegen erinnern daran, dass Pädophilie bereits seit den 1970er-Jahren verboten sei. Es handle sich nicht um eine Frage der Zeit, sondern des Milieus, sagen sie. Während Matzneff mit seiner Pädophilie-Literatur gefeiert wurde, seien Lehrer, Betreuer und Ärzte wegen des gleichen Sexualdeli­kts durchaus verurteilt worden.

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