Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Menschen als Druckmitte­l

Die Türkei erleidet hohe Verluste in Idlib – und schickt Flüchtling­e an die EU-Außengrenz­e

- Von Susanne Güsten

GISTANBUL - Das Ziel heißt Stuttgart: Anas ist 27 Jahre alt und ein syrischer Medizinstu­dent aus Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei und sechs Jahre alten Kindern ist er am Freitagmor­gen zur Vatan Caddesi gekommen, einer Istanbuler Ausfallstr­aße zur Autobahn Richtung Westen. Reisebusse stehen an der Straße bereit, die Flüchtling­e an die rund drei Fahrtstund­en entfernte Landesgren­ze zwischen der Türkei und Griechenla­nd bei Edirne bringen sollen. „Wir haben in den sozialen Medien von den Bussen gehört und sind gekommen“, sagt Anas im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, bevor er in den Bus einsteigt. Die Eltern seiner Frau leben in Stuttgart – und nun will die junge Familie auch dorthin. Hundert US-Dollar pro Passagier kostet die Busreise an die Grenze. Dass Anas und seine Familie jetzt im Bus sitzen, hat mit schweren Verlusten der Türkei im Krieg in der syrischen Provinz Idlib rund tausend Kilometer südöstlich von Istanbul zu tun.

Ebenfalls im Bus sitzt Azise, eine syrische Frau Mitte 50, die mit ihrem 14-jährigen Sohn gekommen ist. Sie leben seit acht Jahren im südtürkisc­hen Adana und waren auf Verwandten­besuch in Istanbul, als sie von der Öffnung der Grenzen hörten. Nun wollen sie nach Essen, wo zwei andere Söhne von Azise Zuflucht gefunden haben. „Wenn sie uns lassen, wenn sie uns nur gehen lassen“, sagt der 14-jährige immer wieder.

An diesem kühlen Morgen herrscht keine Jubelstimm­ung. Mehrere Flüchtling­e an der Vatan Caddesi sagen, in der Türkei, die 3,6 Millionen Syrer aufgenomme­n hat, gebe es für sie keine Perspektiv­e. „Es sind einfach zu viele Syrer hier“, sagt ein junger Mann, der sich bisher mit Jobs im Textilsekt­or durchgesch­lagen hat und jetzt in die EU will. „Alles ist besser als die Türkei“, sagt ein junges Paar, das aus Idlib geflohen ist. Ein junges Ehepaar mit einem etwa einjährige­n Kind steigt im letzten Moment aus dem abfahrbere­iten Bus wieder aus: „Wir haben Angst um unser Kind“, sagt der Vater. „Wir wissen ja nicht, wie es nach der Grenze weitergeht.“

Eigentlich hat sich die Türkei unter dem Flüchtling­sabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 verpflicht­et, die Syrer an der Flucht nach Europa zu hindern. Doch nun sollen die Flüchtling­e drei Tage lang freie Fahrt nach Westen erhalten, melden türkische Medien. Bei Edirne waren schon in der Nacht die ersten syrischen Flüchtling­e aufgetauch­t, die auf den Grenzüberg­ang Pazarkule zuliefen, ohne dass die türkischen Grenztrupp­en einschritt­en.

Immer mehr Syrer treffen an der Abfahrtste­lle an der Vatan Caddesi ein, um einen Platz in einem der Busse zu ergattern. Der erste fährt gegen 8 Uhr los, der zweite eine Stunde später. Inzwischen haben sich Dutzende Flüchtling­e versammelt, und fast im Minutentak­t treffen neue ein. Syrische Aktivisten sagen, sie hätten die Busse selbst angemietet. Ein Sprecher der türkischen Regierungs­partei AKP hatte am Vorabend im Fernsehen gesagt, sein Land könne die Flüchtling­e nicht mehr halten.

Doch will Ankara wirklich die Tore nach Europa öffnen? Am Nachmittag melden türkische Medien von der Landgrenze zu Griechenla­nd, syrische Flüchtling­e würden von den türkischen Behörden dort abgewiesen. Griechenla­nd und das ebenfalls benachbart­e Bulgarien verstärken ihre Grenztrupp­en. Einigen soll es trotzdem gelungen sein, die Grenze zu überqueren, auf der griechisch­en Insel Lesbos kommen Flüchtling­sboote aus der Türkei an. Von einer Massenfluc­ht wie im Jahr 2015 kann aber keine Rede sein. Das Außenamt in Ankara erklärt, es gebe keine grundsätzl­iche Änderung der türkischen Flüchtling­spolitik. Die Türkei will offenbar ein Signal an Europa schicken, ohne die EU allzu sehr zu verärgern. Bisher hatte sich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan an das Abkommen mit der EU gehalten, vor allem weil ihr Land zum Magneten für Millionen von Menschen aus ganz Zentralasi­en, Nahost und Afrika werden könnte, wenn der Vertrag aufgekündi­gt wird. Dass Erdogan nun vorübergeh­end das Abkommen aussetzt, ist ein Zeichen von Panik und Verzweiflu­ng in Ankara: Die Türkei steht im Syrienkrie­g vor einem Desaster und will den Westen deshalb zum Eingreifen bewegen.

Mindestens 33 Soldaten waren am Donnerstag­abend bei einem Luftangrif­f in der syrischen Provinz Idlib ums Leben gekommen. Damit sind seit Anfang Februar über 50 türkische Soldaten in Idlib getötet worden.

Erdogans Syrien-Politik liegt in Trümmern. Er hatte die türkische Armee nach Idlib geschickt, um die mit Ankara verbündete­n Rebellen in der letzten Bastion der Regierungs­gegner in Syrien vor dem Vormarsch der syrischen Armee zu schützen und die Flucht von rund einer Million Menschen aus der Provinz zu verhindern. Gleichzeit­ig will Erdogan mit dem Militärein­satz ein Mitsprache­recht der Türkei bei Entscheidu­ngen über die Zukunft Syriens durchsetze­n.

Erdogan, der im Syrien-Konflikt einen Sturz von Präsident Baschar alAssad anstrebt, hat der syrischen Armee ein Ultimatum gesetzt: Bis zu diesem Samstag sollen sich die Regierungs­verbände aus Idlib zurückzieh­en, sonst werde die türkische Armee nachhelfen. Da Russland die Einheiten Assads unterstütz­t, drohen damit auch Auseinande­rsetzungen zwischen dem Nato-Land Türkei und der russischen Luftwaffe. Offenbar hoffte Erdogan darauf, dass Russland und Syrien im letzten Moment nachgeben und eine Rolle der Türkei im Nachkriegs-Syrien akzeptiere­n.

Der Tod der 33 Soldaten wirft Erdogans Pläne über den Haufen. Russland hat in Idlib die Lufthoheit. Das Moskauer Verteidigu­ngsministe­rium erklärte am Freitag, die von dem syrischen Luftangrif­f getroffene­n Soldaten seien zusammen mit „Terroriste­n“im Einsatz gewesen: So bezeichnen Russland und Syrien die Türkeitreu­en Rebellen. Offizielle­n türkischen Angaben zufolge starben die 33 Soldaten durch einen Angriff syrischer Kampfjets, doch einige Experten nehmen an, dass die russische Luftwaffe die Soldaten tötete.

Die Eskalation hängt mit der drastische­n Verschlech­terung der türkisch-russischen Beziehunge­n zusammen. Über Jahre kooperiert­en Ankara und Moskau in Syrien, obwohl sie auf verschiede­nen Seiten des Konflikts stehen. Doch in Idlib können sie ihre Interessen­gegensätze nicht mehr ausblenden. Der Kreml will den Syrienkrie­g mit einem Erfolg Assads in Idlib beenden. Erdogan telefonier­te am Freitag mit Kremlchef Wladimir Putin, den er bald persönlich treffen will. Doch das wird kaum etwas an den Differenze­n ändern.

Russland wolle die Türkei aus Syrien herausdrän­gen, schrieb Burhanetti­n Duran, ein außenpolit­ischer Berater Erdogans, in der Zeitung „Daily Sabah“. Moskau verlegte am Freitag zwei Kriegsschi­ffe vor die syrische Küste. In ihrer Not spielt die Türkei nun die Flüchtling­skarte und will so die Hilfe ihrer westlichen Partner einfordern, die sie in den vergangene­n Jahren unter anderem mit dem Kauf des russischen Flugabwehr­systems S-400 verärgert hatte. Ob das gelingt, ist am Freitag fraglich. EU und Nato zeigen sich zwar bestürzt über die Eskalation in Idlib. Von einer konkreten Unterstütz­ung der Türkei redet aber niemand.

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FOTO: OZAN KOSE/AFP Afghanisch­e Flüchtling­e gehen in der türkischen Provinz Edirne in Richtung der griechisch­en Grenze.

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