Im Jahr des Übergangs
Ein allzu vorhersehbarer Goldener Bär trübt die gute Bilanz der neuen Berlinale-Leitung
GBERLIN - Der Film „Es gibt kein Böses“des Iraners Mohammad Rasoulof gewann bei der 70. Berlinale den Goldenen Bären. Es war alles andere als eine Überraschung, als Jurypräsident Jeremy Irons den Sieger verkündete. Zu gut passte der allerletzte Beitrag im Berlinale-Wettbewerb ins Konzept einer typischen BerlinalePreisverleihung und zu einer Jury, die sich ganz offensichtlich nicht auf ästhetisch-stilistische Kriterien einigen konnte, deren Ansichten zur Filmkunst sich gegenseitig neutralisierten. Zu weit auseinander lagen die anderen Preise, um diesen Eindruck zu verschleiern.
So blieb eine politisch-moralische Botschaft der vorhersehbare kleinste gemeinsame Nenner. Denn filmisch ist der neorealistische Inszenierungsstil Rasoulofs im Vergleich zu manch anderem großartigen iranischen Film bestenfalls Durchschnitt. „Es gibt kein Böses“führt in vier Episoden moralische Konflikte seiner Hauptfiguren vor und stellt diese in Zusammenhang mit Fragen der in Iran nach wie vor praktizierten Todesstrafe.
Iran hat über Rasoulof zur Zeit ein Ausreiseverbot verhängt. Daher konnte der Regisseur nicht nach Berlin kommen. So hatten alle ihre Geschichte und gute Gründe, sich nicht mit Fragen der Filmkunst und der Qualität des Films zu belasten. Dabei ist es eine wichtige Frage, ob filmkünstlerische Preise nach politischer Jahreszeit und moralischer Gefälligkeit vergeben werden sollten.
Mit Rasoulof hat nun nach Asghar Fahadi („Nadir und Simin“) 2011 und Jafar Panahi („Taxi Teheran“) 2015 zum dritten Mal in zehn Jahren ein iranischer Dissident einen Goldenen Bären gewonnen. Auch weil Berlin für iranische Oppositionsfilme offenbar eine perfekte Bühne ist, hatte der Preis am Samstag nur wenige überrascht.
Die weiteren Preise gingen größtenteils an weniger bekannte Filmemacher, wie die Amerikanerin Eliza Hittman, während mit Ausnahme des Koreaners Hong Sang-soo (Beste Regie) die bekannten Namen im Wettbewerb leer ausgingen. Unprämiert blieben auch nahezu sämtliche wirklich künstlerisch radikalen Beiträge: Die eine Ausnahme war der Silberne Bär „für eine herausragende künstlerische Leistung“, der an den deutschen Kameramann Jürgen Jürges ging, – und damit an den umstrittensten Film des Wettbewerbs, den russisch-ukrainischen „DAU“.
„DAU“ist ein experimentelles Kunstprojekt, das in Filmform dokumentiert wird. Zwei von bislang 13 Filmauskoppelungen aus dem viele hundert Stunden umfassenden Material wurden in Berlin gezeigt. Wie zu hören ist, sollen während des Jahres weitere „DAU“-Filme gezeigt werden. In dem Projekt stellen Freiwillige unter Anleitung des Regisseurs Ilya Khrzhanovsky und seines Teams das Leben unter dem Stalinismus nach – inklusive Terror und Schauprozessen.
Die Vorführung von „DAU: Natascha“spaltete auch das professionelle Berlinale-Publikum. Waren die einen fasziniert von starken ungesehenen Bildern und einer einmaligen Seh-Erfahrung, stellten andere die Legitimität von „DAU“infrage. Vorwürfe über Arbeitsbedingungen und die Darstellung des Regisseurs als „Diktator“sorgten im Vorfeld zusätzlich dafür, dass manch einer sich weigerte, sich auf die Erfahrung überhaupt einzulassen. Das aber wäre gerade die Aufgabe von Filmkritik – nicht Kapitulation unter dem Vorwand moralischer Empfindlichkeit.
Der wohl beste Berlinale-Film lief gar nicht im Wettbewerb, dafür kam er aus Ludwigsburg: „The Trouble with Being Born“von Sandra Wollner gewann eine „Special Mention“ im neugegründeten zweiten Berlinale-Wettbewerb „Encounters“.
Für das neuberufene BerlinaleLeitungsteam Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek war das erste Jahr in der Nachfolge Dieter Kosslicks kein leichtes: Der sowieso schon arg verspätete Amtsantritt im
Juni wurde durch logistische Missstände belastet, durch fehlende Kinos, und einen Potsdamer Platz der durch Bauarbeiten und zu drei Vierteln geschlossene Restaurants mehr einer Mondlandschaft ähnelt, als einem Ort, in der man im Namen von Marlene Dietrich und Billy Wilder das Kino feiern will.
Angesichts dessen ist beiden ein guter Start geglückt. Die Qualität der Filme war besser, auch wenn längst noch nicht das Niveau von Venedig oder gar Cannes erreicht ist, und es weiterhin viel zu viele Filme gibt. Auch hat gerade der Erfolg der neuen „Encounters“-Reihe einen Nachteil: Er kannibalisiert alle anderen Sektionen, sogar den Wettbewerb. Denn wo, wenn nicht hier, sollten die tatsächlich besten, mutigsten, visionärsten Filme laufen?
Nun machen sich zwei Wettbewerbe Konkurrenz. Die befruchten einander nicht, sondern schaden sich gegenseitig. Trotzdem sollte man nicht vorschnell urteilen: Die Berlinale 2020 wird in Erinnerung bleiben als ein Jahr des Übergangs. Die Handschrift der neuen Leiter wird man erst in ein bis zwei Jahren wirklich erkennen. Dann allerdings muss sie auch sichtbar werden.