„Wir bräuchten mehr Betten, um alle zu retten“
Ein Arzt aus der Lombardei berichtet vom dramatischen Alltag in der Corona-Epidemie
WEINGARTEN - Rund 20 000 Infizierte, mehr als 2000 Tote: Keine Region in Europa hat das Coronavirus so heftig getroffen wie die Lombardei. Wie ist die Lage vor Ort? Warum leidet ausgerechnet diese norditalienische Region mit ihrem guten Gesundheitssystem so stark unter der Epidemie? Sebastian Heinrich hat darüber mit Mario Serra gesprochen, Anästhesist und Intensivmediziner an den Spedali Civili, einem Krankenhauskomplex in der lombardischen Stadt Brescia. Brescia ist nach Bergamo die am zweitstärksten von der Epidemie betroffene Provinz der Lombardei.
Herr Serra, wie sieht der Arbeitsalltag der Ärzte bei den Spedali Civili in Brescia aus, seit die Coronavirus-Epidemie da ist?
Hier hat sich viel verändert, vom Schichtplan, der viel dichter geworden ist bis zur Lebensqualität von Pflegekräften und Ärzten, die jeden Tag ihre Gesundheit riskieren. Es geht mit der Ankleidung los: Schutzanzüge, Überschuhe, doppelte Handschuhe, Schutzbrillen und Atemschutzmasken mit FFP-2- oder FFP-3-Schutz für lebensrettende Maßnahmen. Allein das Ankleiden dauert circa 20 Minuten. Danach gehen wir auf die Intensivstation, wo wir ständig mehr Plätze brauchen.
Wie viele Covid-19-Erkrankte behandeln Sie in Brescia?
Vor dem Krankenhaus haben wir Zelte aufgebaut, in denen wir eine erste Auswahl treffen – und entscheiden, wer ins Krankenhaus muss. In diesen Zelten kommen täglich 50 bis 80 an Covid erkrankte Menschen an, das ist wirklich sehr viel. Momentan belegen alleine die an Covid-19 Erkrankten 60 Intensivbetten – und es gibt ja nach wie vor Menschen mit anderen Krankheiten!
Aus Bergamo, der Nachbarprovinz von Brescia, gab es furchtbare Berichte von Ärzten, die entscheiden mussten, wen sie retten, weil es nicht genug Intensivbetten gab. Mussten Sie in Brescia auch solche Entscheidungen treffen?
Wir Intensivmediziner müssen jeden Tag wichtige Entscheidungen treffen. Die Frage, wen wir intensiver behandeln, hängt von vielen Faktoren ab, bei jeder Entscheidung folgen wir unserer Berufsethik und achten die Würde des Patienten. Wir sind in einer Notlage, wie die Kollegen in Bergamo, wir bräuchten mehr Intensivbetten und Ärzte, um alle Patienten zu retten.
Wie ist die Sterblichkeit bei den Covid-19-Patienten in Ihrem Krankenhaus?
Die Letalität, also der Anteil der Patienten, die an Covid-19 sterben, liegt bei sechs Prozent, bei Älteren steigt sie auf 15 Prozent. Diese Krankheit ist viel tödlicher als eine banale Grippe. Und jetzt sehen wir, dass die infizierten Patienten jünger werden, bei uns liegen auch 40-Jährige auf der Intensivstation.
Wann hat der Corona-Notstand bei Ihnen begonnen?
Mitte Februar hatten wir die ersten Fälle, dann ist die Zahl Tag für Tag exponentiell gestiegen. Danach haben wir versucht, mehr Intensivbetten bereitzustellen. Aber es ist sehr schwer, mehr Betten auf derselben Fläche unterzubringen, mehr Beatmungsgeräte zu finden – und vor allem Personal, das auf der Intensivstation arbeiten kann.
Was denken Sie, wie lange wird diese Krise andauern?
Laut den aktuellen Vorhersagen müssten wir zwischen Ende März und Anfang April den Peak erreichen. Danach dürfte zumindest die Zahl der Menschen sinken, die gleichzeitig in die Intensivstation eingeliefert werden. Das würde schon eine Menge Druck von unseren Krankenhäusern nehmen, die sind am Ende ihrer Möglichkeiten.
Wie erklären Sie und Ihre Kollegen sich, dass ausgerechnet in der Lombardei mit ihrem ausgezeichneten Gesundheitssystem die Situation so dramatisch ist?
Ich würde das mit der anfänglichen Unterschätzung der Krankheit erklären: Wenn ein Problem weit entfernt ist, unterschätzt du es noch. Dann ist es plötzlich in deinem Land und du musst Entscheidungen treffen. Durchschnittlich überträgt eine infizierte Person dieses Coronavirus auf zehn andere: Das ist explosiv. Seit wir die ersten Fälle hatten, haben all die Aufrufe, zu Hause zu bleiben, sich die Hände zu waschen, voneinander Abstand zu halten, nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Am Anfang wollten die Behörden hier auch nicht gleich die ganze Lombardei isolieren. Aber Isolierung ist momentan die einzige echte Waffe gegen diese Pandemie.
In Deutschland sind viele empört, weil immer noch Menschen einfach so rausgehen, manche feiern sogar „Coronapartys" in großer Gesellschaft. Was würden Sie diesen Menschen sagen?
Dieses Virus hat keine Beine, es geht nicht raus und entscheidet, wen es infiziert. Das Virus benötigt zwischenmenschlichen Kontakt für die Übertragung. Und ungefähr zehn Prozent der Infizierten brauchen eine Intensivtherapie. Das ist auch für deutsche Krankenhäuser zu viel. In Italien werden jetzt überall Transparente aufgehängt mit der Aufschrift „andrà tutto bene", alles wird gut. Aber wenn ihr weiter rausgeht und euch nicht isoliert, dann kann ich euch sagen: Wenn ihr so weitermacht, wird definitiv nicht alles gut.