Die letzten Momente der Freiheit
Ausgangsbeschränkungen in Bayern und „Betretungsverbot für öffentliche Orte“in Ulm
GULM/NEU-ULM - Eigentlich könnte es schöner kaum sein: Die Sonne lässt sich am Freitagmittag ab und an blicken. Auf dem Münsterplatz sitzen Menschen im Café Tröglen in Blickrichtung des Münsters und lassen sich den Cappuccino schmecken. Es ist ruhig. Sehr ruhig. Zu ruhig für einen Freitag. Fühlt sich so Endzeitstimmung an?
So empfindet zumindest die Inhaberin eines Kiosks in der Hafengasse. Sie darf im Gegensatz zu den meisten anderen Geschäften in Ulm noch öffnen. Die Kunden kaufen die Zigaretten gleich stangenweise. Und stangenweise würden die Menschen am liebsten auch das Gefühl eines ganz normalen Feierabends am Beginn des Wochenendes mitnehmen. Doch die sind erst mal Geschichte.
Nachdem am Mittag Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Ausgangsbeschränkungen wegen der Corona-Krise beschloss, dauerte es keine Stunde bis Ulm nachlegte: „Aufgrund der besonderen Nähe zu Neu-Ulm“kündigte Oberbürgermeister Gunter Czisch ein „Betretungsverbot für öffentliche Orte“an. Am Freitagnachmittag fühlte sich Ulm in weiten Teilen so an, als wäre dieses Verbot schon in Kraft. „Es ist schon unglaublich leer heut“, sagt die Verkäuferin des Backwarenstands gegenüber der Galeria Kaufhof.
In der Herrenkellergasse unterhalten sich zwei Bewohnerinnen von gegenüberliegenden Häusern. „Ich habe alle Fenster schon geputzt. Was soll ich jetzt machen?“, sagt sie. Und lacht.
Ansonsten laufen die Menschen eher stumm durch die Straßen und staunen über eine unwirkliche Leere in der Hirschstraße, Menschen mit Atemschutzmasken und die Hinweise an den Schaufenstern, die wie Abschiedsbriefe wirken. „Love“, „Bis bald“oder „Haltet uns die Treue“.
Kreativ begegnet der Krise die Buchhandlung Kerler in der Rosengasse. Das Geschäft ist besetzt und liefert auf „telefonische Bestellung“vor die Eingangstüre des Ladens. Und das mit dem Hinweis: „Vermeiden sie bitte unnötige Bestellungen bei Internetriesen.“
Auch Rasmus Schöll, der Inhaber der Buchhandlung Aegis, appelliert in einem Aushang flehentlich: „Bleibt den kleinen Läden treu.“Bei „Gutes von hier“, einem Lebensmittelgeschäft in der Herrenkellergasse, hat der Laden eine Abholstation eingerichtet. Die Umsätze müssen weiter gehen. „Die meiste von uns werden sonst nicht wieder öffnen können.“
Josef Röll, der Handelsexperte der Ulmer Industrie- und Handelskammer, lobt grundsätzlich das Engagement der Ladeninhaber. Aber er befürchtet, dass die Corona-Krise dennoch vorhandene Trends bestärke und Ebay, Amazon und Co. noch mächtiger werden lässt. „Die Kleinen werden leiden.“
Die Handelslandschaft gerate in einen Teufelskreis. Bis wieder geöffnet werden könne, hätten die Internetriesen ihren Marktanteil noch vergrößert und die stationären Geschäfte müssten die vorhandene Ware vermutlich zu reduzierten Preisen verkaufen weil längst die nächste Saison vor der Tür stehe. „Das wird zu massiven Schräglagen führen“, sagt Röll.
Schon jetzt haben etliche Händler Kurzarbeit angemeldet von inhabergeführten Läden wie Sport-Klamser bis zu großen Ketten wie Depot. Zumal bei null bis wenig Umsatz über eigene Onlineshops die Mieten drücken. „Wir sind in einer desaströsen Situation“, sagt Mike Klamser, der Inhaber des gleichnamigen Sportgeschäfts in der Frauenstraße und Vorsitzender der Werbegemeinschaft Ulmer City-Marketing. Nur eine Reglung der Bundesregierung, die Mietzahlungen zu stunden oder auszusetzen, könnte den inhabergeführten Handel retten. „Ich weiß nicht, ob es bei mir überhaupt weiter geht“, sagt Claudia Sibylle Baur, die Inhaberin eines kleinen Holzspielwarengeschäfts in der Herrenkellergasse. Sie lebe mit ihren Geschäft von der Hand im Mund. Gerade das Ostergeschäft sei für ihr qualitativ hochwertiges Holzspielzeug sehr wichtig.
Verwundert nehmen Händler wie Sibylle Baur zu Kenntnis, dass der Drogeriemarkt Müller zumindest am Freitag in seinen Filialen in Ulm und Neu-Ulm Spielwaren verkaufte. Das große Müller-Kaufhaus in der Hirschstraße hatte auf sämtlichen Etagen geöffnet. Offensichtlich nutzt die Ulmer Firma hier aus, dass sie offiziell als Drogerie gilt. Auch wenn es Haushaltswaren, Spielwaren und Elektronikartikel in größerem Ausmaß gibt. Aufgrund des Gedränges in der bunten Warenwelt der Neu-Ulmer Filiale klebten die Mitarbeiter am Freitag Wartezonen in gebührenden, virusfeindlichen Abständen ab.
Auf solche müssen auch die Betreiber der Neu-Ulmer Glacis-Galerie achten. Anderthalb Meter müssen zwischen den Gästen frei bleiben. Gäste waren aber am Freitag kaum welche da. Rolling Sushi ist abgeschaltet, die Testa-Rossa-Bar mit Plastikfolie umhüllt. Der Döner-Laden Gustosa im Erdgeschoss hat gar nicht erst aufgemacht.
Gastronomen stehen vor ähnlich gravierenden Herausforderungen wie die Einzelhändler: „So eine Situation und so einen massiven Umsatzeinbruch habe ich in all den vielen Jahren nicht erlebt“, sagt Hirsch-SeniorChef Johann Britsch. „Die Gastronomie und Hotellerie stehen vor einer völlig neuen und katastrophalen Situation.“Sie alle klammern sich an den Strohhalm der Abholung und des Lieferservices, wenn die Restaurants und Biergärten ab Samstag komplett geschlossen werden.
Fast schon trotzig wird am Freitag die Freiluftgastrokultur zu Grabe getragen. Im Biergarten Teutonia in der Friedrichsau oder im Offenhauser Schlössle. Die Menschen genießen die letzten Sonnenstrahlen ohne den Schatten, den die Ausgangsbeschränkungen ab Samstag auf das Leben legen. Ein letztes Bier in Freiheit. Immer mit einem Mantra auf den Lippen: Der Verzicht auf persönliche Freiheit soll anderen Menschen das Leben retten. Nicht jeder nimmt das ernst: Wie die Polizei mitteilt, wurden bereits am Donnerstag mehrere Personen in Park-, auf Sportanlagen, sowie an Spielplätzen angetroffen, die sich dort in Gruppen sportlich betätigten. Im verrückten Corona-Frühjahr des Jahres 2020, als die Freiheit für mindestens, zwei Wochen begraben wurde, ist so etwa illegal.