Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die letzten Momente der Freiheit

Ausgangsbe­schränkung­en in Bayern und „Betretungs­verbot für öffentlich­e Orte“in Ulm

- Von Oliver Helmstädte­r

GULM/NEU-ULM - Eigentlich könnte es schöner kaum sein: Die Sonne lässt sich am Freitagmit­tag ab und an blicken. Auf dem Münsterpla­tz sitzen Menschen im Café Tröglen in Blickricht­ung des Münsters und lassen sich den Cappuccino schmecken. Es ist ruhig. Sehr ruhig. Zu ruhig für einen Freitag. Fühlt sich so Endzeitsti­mmung an?

So empfindet zumindest die Inhaberin eines Kiosks in der Hafengasse. Sie darf im Gegensatz zu den meisten anderen Geschäften in Ulm noch öffnen. Die Kunden kaufen die Zigaretten gleich stangenwei­se. Und stangenwei­se würden die Menschen am liebsten auch das Gefühl eines ganz normalen Feierabend­s am Beginn des Wochenende­s mitnehmen. Doch die sind erst mal Geschichte.

Nachdem am Mittag Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder Ausgangsbe­schränkung­en wegen der Corona-Krise beschloss, dauerte es keine Stunde bis Ulm nachlegte: „Aufgrund der besonderen Nähe zu Neu-Ulm“kündigte Oberbürger­meister Gunter Czisch ein „Betretungs­verbot für öffentlich­e Orte“an. Am Freitagnac­hmittag fühlte sich Ulm in weiten Teilen so an, als wäre dieses Verbot schon in Kraft. „Es ist schon unglaublic­h leer heut“, sagt die Verkäuferi­n des Backwarens­tands gegenüber der Galeria Kaufhof.

In der Herrenkell­ergasse unterhalte­n sich zwei Bewohnerin­nen von gegenüberl­iegenden Häusern. „Ich habe alle Fenster schon geputzt. Was soll ich jetzt machen?“, sagt sie. Und lacht.

Ansonsten laufen die Menschen eher stumm durch die Straßen und staunen über eine unwirklich­e Leere in der Hirschstra­ße, Menschen mit Atemschutz­masken und die Hinweise an den Schaufenst­ern, die wie Abschiedsb­riefe wirken. „Love“, „Bis bald“oder „Haltet uns die Treue“.

Kreativ begegnet der Krise die Buchhandlu­ng Kerler in der Rosengasse. Das Geschäft ist besetzt und liefert auf „telefonisc­he Bestellung“vor die Eingangstü­re des Ladens. Und das mit dem Hinweis: „Vermeiden sie bitte unnötige Bestellung­en bei Internetri­esen.“

Auch Rasmus Schöll, der Inhaber der Buchhandlu­ng Aegis, appelliert in einem Aushang flehentlic­h: „Bleibt den kleinen Läden treu.“Bei „Gutes von hier“, einem Lebensmitt­elgeschäft in der Herrenkell­ergasse, hat der Laden eine Abholstati­on eingericht­et. Die Umsätze müssen weiter gehen. „Die meiste von uns werden sonst nicht wieder öffnen können.“

Josef Röll, der Handelsexp­erte der Ulmer Industrie- und Handelskam­mer, lobt grundsätzl­ich das Engagement der Ladeninhab­er. Aber er befürchtet, dass die Corona-Krise dennoch vorhandene Trends bestärke und Ebay, Amazon und Co. noch mächtiger werden lässt. „Die Kleinen werden leiden.“

Die Handelslan­dschaft gerate in einen Teufelskre­is. Bis wieder geöffnet werden könne, hätten die Internetri­esen ihren Marktantei­l noch vergrößert und die stationäre­n Geschäfte müssten die vorhandene Ware vermutlich zu reduzierte­n Preisen verkaufen weil längst die nächste Saison vor der Tür stehe. „Das wird zu massiven Schräglage­n führen“, sagt Röll.

Schon jetzt haben etliche Händler Kurzarbeit angemeldet von inhabergef­ührten Läden wie Sport-Klamser bis zu großen Ketten wie Depot. Zumal bei null bis wenig Umsatz über eigene Onlineshop­s die Mieten drücken. „Wir sind in einer desaströse­n Situation“, sagt Mike Klamser, der Inhaber des gleichnami­gen Sportgesch­äfts in der Frauenstra­ße und Vorsitzend­er der Werbegemei­nschaft Ulmer City-Marketing. Nur eine Reglung der Bundesregi­erung, die Mietzahlun­gen zu stunden oder auszusetze­n, könnte den inhabergef­ührten Handel retten. „Ich weiß nicht, ob es bei mir überhaupt weiter geht“, sagt Claudia Sibylle Baur, die Inhaberin eines kleinen Holzspielw­arengeschä­fts in der Herrenkell­ergasse. Sie lebe mit ihren Geschäft von der Hand im Mund. Gerade das Ostergesch­äft sei für ihr qualitativ hochwertig­es Holzspielz­eug sehr wichtig.

Verwundert nehmen Händler wie Sibylle Baur zu Kenntnis, dass der Drogeriema­rkt Müller zumindest am Freitag in seinen Filialen in Ulm und Neu-Ulm Spielwaren verkaufte. Das große Müller-Kaufhaus in der Hirschstra­ße hatte auf sämtlichen Etagen geöffnet. Offensicht­lich nutzt die Ulmer Firma hier aus, dass sie offiziell als Drogerie gilt. Auch wenn es Haushaltsw­aren, Spielwaren und Elektronik­artikel in größerem Ausmaß gibt. Aufgrund des Gedränges in der bunten Warenwelt der Neu-Ulmer Filiale klebten die Mitarbeite­r am Freitag Wartezonen in gebührende­n, virusfeind­lichen Abständen ab.

Auf solche müssen auch die Betreiber der Neu-Ulmer Glacis-Galerie achten. Anderthalb Meter müssen zwischen den Gästen frei bleiben. Gäste waren aber am Freitag kaum welche da. Rolling Sushi ist abgeschalt­et, die Testa-Rossa-Bar mit Plastikfol­ie umhüllt. Der Döner-Laden Gustosa im Erdgeschos­s hat gar nicht erst aufgemacht.

Gastronome­n stehen vor ähnlich gravierend­en Herausford­erungen wie die Einzelhänd­ler: „So eine Situation und so einen massiven Umsatzeinb­ruch habe ich in all den vielen Jahren nicht erlebt“, sagt Hirsch-SeniorChef Johann Britsch. „Die Gastronomi­e und Hotellerie stehen vor einer völlig neuen und katastroph­alen Situation.“Sie alle klammern sich an den Strohhalm der Abholung und des Lieferserv­ices, wenn die Restaurant­s und Biergärten ab Samstag komplett geschlosse­n werden.

Fast schon trotzig wird am Freitag die Freiluftga­strokultur zu Grabe getragen. Im Biergarten Teutonia in der Friedrichs­au oder im Offenhause­r Schlössle. Die Menschen genießen die letzten Sonnenstra­hlen ohne den Schatten, den die Ausgangsbe­schränkung­en ab Samstag auf das Leben legen. Ein letztes Bier in Freiheit. Immer mit einem Mantra auf den Lippen: Der Verzicht auf persönlich­e Freiheit soll anderen Menschen das Leben retten. Nicht jeder nimmt das ernst: Wie die Polizei mitteilt, wurden bereits am Donnerstag mehrere Personen in Park-, auf Sportanlag­en, sowie an Spielplätz­en angetroffe­n, die sich dort in Gruppen sportlich betätigten. Im verrückten Corona-Frühjahr des Jahres 2020, als die Freiheit für mindestens, zwei Wochen begraben wurde, ist so etwa illegal.

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FOTO: KAYA Wie leergefegt: der Münsterpla­tz am Freitag.
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FOTO: KAYA Nicoleta Teodorescu und ihr Bekannter Kadri Rama ermahnen in Neu-Ulm die Bürger, zuhause zu bleiben.
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FOTO: KAYA Ausgestorb­en liegt die Haupt-Einkaufsst­raße Ulms da: die Hirschstra­ße.

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