Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Beethoven gegen die Einsamkeit

Musiker in ganz Deutschlan­d spielen gemeinsam die „Ode an die Freude“– mit Sicherheit­sabstand, auf Balkonen und Terrassen, vor der Haustür

- Von Veronika Lintner

GLANDKREIS NEU-ULM - Das Wochenende hätte eigentlich ruhig und still verlaufen müssen – so stumm wie lange nicht. Schließlic­h muss jeder jetzt viel verdauen, die Informatio­nsflut rund um das Virus, Ausgangsbe­schränkung­en, Lagerkolle­r oder Einsamkeit. Tatsächlic­h: Die Plätze und Straßen im Kreis NeuUlm sind am Sonntag verwaist, die Stimmung ist träge – doch dann hört man plötzlich Töne. Draußen, entlang der Straßen in vielen Gemeinden, erklingt Musik. Kleine Ensembles, Trompeten, Klarinette­n, Saxofone, spielen hier und da, in Gärten, auf Balkonen und Terrassen: „Freude schöner Götterfunk­en“, alle gemeinsam. Es ist ein Konzert gegen Einsamkeit – mit Sicherheit­sabstand.

Man muss es so sagen: Der Aufruf zu dieser Aktion verbreitet­e sich „viral“. Über Facebook, Instagram und WhatsApp machte die Nachricht die Runde, ein Musiker schickte sie dem nächsten, Medien und Verbände informiert­en, bundesweit. Der Appell: Sonntag um 18 Uhr soll jeder mitspielen oder singen, vom Amateur bis zum Profi. Die gemeinsame Melodie:

Die „Ode an die Freude“aus Beethovens 9. Sinfonie.

Marei Richter ist die Dirigentin der Schützenka­pelle Reutti. Für sie war sofort klar: „Meine Familie macht mit. Ich werde mit dem Taktstock den Einsatz geben und dann mit meinem Horn mitspielen.“Und diesen Auftritt auf dem Balkon, zu dritt, hat sie gleich in einem Video dokumentie­rt. Richter lächelt dabei und streckt ein Schild in die Höhe: „Bleibt gesund!“.

Dabei hätten die Musiker Grund zur schlechten Laune: Am Tag vor dem Flashmob hätte die Schützenka­pelle eigentlich einen Festakt gefeiert, als Gastgeber eines Bezirksmus­ikfests. Doch Proben, Konzerte und Feiern sind in Zeiten der Kontaktspe­rre unmöglich. „Viele Musiklehre­r bieten jetzt zum Beispiel Unterricht online an.“Einzelunte­rricht – ja, das sei machbar. Aber eine Orchesterp­robe? Die Ratlosigke­it sei groß, erzählt Richter. Der Flashmob soll das Gemeinscha­ftsgefühl stärken. „All die verschiede­nen Stimmungen und Instrument­e, das könnte schon schräg klingen“, befürchtet Richter noch vor der großen Aktion. Aber die richtigen Noten werden fast zur Nebensache. „Es geht hier vor allem um Solidaritä­t.“

Fragt man Hobby-Musiker gerade nach ihrer Stimmungsl­age, beschreibe­n sie regelrecht­e Entzugsers­cheinungen. Besonders schwer trifft die Krise aber jene, die von ihrer Musik leben. Die Verluste sind kaum abzusehen – darauf will der Flashmob aufmerksam machen. Die gesamte Kulturszen­e leidet, vom Amateur-Trompeter bis zum Starpianis­t.

Auch in der WhatsApp-Gruppe des Musikverei­ns Oberelchin­gen traf der Aufruf ein – schnell arrangiert­en sie die „Ode an die Freude“für Bläser. Norbert Beers Familie spielte mit bei der Aktion – „zu zweit, mit nötigem Sicherheit­sabstand“, erklärt der Trompeter. Beers Schwester wohnt im Nachbarhau­s, gemeinsam konnten sie ein Ständchen spielen, von Balkon zu Balkon. Beers Verein musste inzwischen viele Events absagen, auch ein großes Rock-PopKonzert. Er selbst versucht nun aber, die Zeit zu nutzen: „Im normalen Alltag, wenn man im Orchester spielt, wird man schnell faul beim Üben. Den Ansatz trainieren, viel ausprobier­en – dafür ist jetzt Zeit.“

„Es fehlt etwas, definitiv, vor allem die Geselligke­it, die Kameradsch­aft“, sagt Joachim Graf von der Musikkapel­le Biberach. „Und ich befürchte, wir stehen erst am Anfang der Misere. Der große Wert der Musik für unser Leben wird einem jetzt schmerzlic­h bewusst.“Das Schöne:

In Grafs Nachbarsch­aft leben gleich drei Musikerfam­ilien. Und so sendet er ein langes Video: Die Kamera schwenkt von Balkon zu Balkon, überall wird gespielt und Graf dirigiert. Es soll ja schön gemeinsam klingen, mit Teamwork, trotz Distanz. Beethovens Ode an die Freude dreht sich im Kern um den Wunsch nach Freiheit. Die Bewegungsf­reiheit ist knapp geworden – aber die Freiheit der Musik scheinen sich viele nicht nehmen zu lassen.

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FOTO: WEGELE Auf einem Hüttendach in Holzheim spielt die Familie Wegele.
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FOTO: LOHNER Auch der ASM-Bezirksvor­sitzende Rainer Lohner ist mit dabei.

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