Allein im Heim
Ein Blick hinter die Mauern der Seniorenresidenz am Römergarten in Ehingen, wo nur noch der Fernseher auf Hochtouren läuft
GEHINGEN - Das hat sich die 90Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, völlig anders vorgestellt, als sie im September vergangenen Jahres aus ihrer Wohnung in Biberach auszog, um fortan in der Seniorenresidenz am Römergarten in Ehingen zu leben. Sie erwartete ein geselliges Zusammensein mit anderen alten Menschen, einen gemeinsamen Mittagstisch, anregende Gespräche, gemütliche Kaffeestunden, Angebote wie Gymnastik, Basteln, Singen, eventuell sogar kleine Ausflüge, die zusammen unternommen werden. Selbstverständlich waren für sie auch die regelmäßigen Besuche ihres Mannes und von Freundinnen sowie kleine Spaziergänge mit dem Rollator in die Stadt. Doch dann stellte das Coronavirus die Welt auf den Kopf. Auch im Pflegeheim in Ehingen. An gemeinsame Unternehmungen war nicht mehr zu denken. Immer mehr Einschränkungen bestimmten das Leben im Haus.
Bitter wurde es für die Biberacherin, als sie, nachdem alle Heimbewohner auf das Coronavirus getestet worden waren, einen positiven Bescheid erhielt. Obwohl sie keinerlei Symptome zeigte, musste sie 14 Tage in Quarantäne. Das bedeutete für die Seniorin: Von ihrem Zimmer in die Isolierstation des Heimes umziehen, keinen Besuch empfangen, auf dem Zimmer essen, keinerlei Kontakt zu anderen Heimbewohnern. „Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Fernsehen geschaut wie in dieser Zeit“, berichtet die Seniorin am Telefon.
Die Quarantäne ging vorbei, die Einschränkungen blieben. Zwar durfte die 90-Jährige wieder ihr altes Zimmer beziehen, aber nach wie vor gibt es kein gemeinsames Mittagessen, keinen Kaffeeklatsch. Kontakt zu ihren Lieben kann die Seniorin nur über das Telefon halten. Immerhin darf sie – mit Mundschutz – jetzt ab und zu ihr Zimmer verlassen. „Wir alle hoffen, dass wir wenigstens bald wieder zusammen essen können“, erzählt sie.
Vergangenen Sonntag gab es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Gemeinschaft: Das Wetter war herrlich, und einige Senioren der Residenz wurden mit Mundschutz und großem Abstand in den Garten des Heims gebracht, wo eine Musikgruppe spielte und gemeinsam gesungen wurde. „Soweit das mit Mundschutz möglich war“, berichtet die Biberacherin. Dieser kleine Lichtblick im derzeitig düsteren Heimalltag hinterließ bei der Seniorin allerdings auch folgenden Eindruck: „Man merkt vielen Heimbewohnern an, wie sie unter den derzeitigen Umständen leiden. Einige sind total zusammengefallen und haben sehr abgebaut, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.“Sie selbst belaste die gesamte Situation auch. Aber sie füge sich. „Statt zu rebellieren, lese ich viel und schaue fern.“
Obwohl scharfe Kritiker die derzeitige Situation in Pflege- und Altersheimen als Freiheitsberaubung bezeichnen, reagieren die meisten Bewohner wie die 90Jährige in Ehingen noch sehr gelassen. Sofern sie verstehen, warum es momentan dermaßen strikte Regeln und Einschränkungen gibt. So meint eine 80-jährige mehrfache Großmutter, die in einem Heim in Böblingen lebt: „Auf Besuch verzichte ich gerne. Denn ich möchte verhindern, dass jemand wegen mir das Virus hier einschleppt.“Die Leiterin dieses Pflegeheims hat für diese Gelassenheit auch eine Erklärung: „Die meisten Menschen hier haben eine große Lebenserfahrung und oft weit Schlimmeres durchgemacht, zum Beispiel den Krieg.“
Trotzdem wird der Ruf nach einem Ende der Abriegelung der Heime immer lauter. Und die Politik reagiert endlich. Das baden-württembergische Sozialministerium hat am Dienstag Lockerungen angekündigt.