Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Allein im Heim

Ein Blick hinter die Mauern der Seniorenre­sidenz am Römergarte­n in Ehingen, wo nur noch der Fernseher auf Hochtouren läuft

- Von Simone Haefele

GEHINGEN - Das hat sich die 90Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, völlig anders vorgestell­t, als sie im September vergangene­n Jahres aus ihrer Wohnung in Biberach auszog, um fortan in der Seniorenre­sidenz am Römergarte­n in Ehingen zu leben. Sie erwartete ein geselliges Zusammense­in mit anderen alten Menschen, einen gemeinsame­n Mittagstis­ch, anregende Gespräche, gemütliche Kaffeestun­den, Angebote wie Gymnastik, Basteln, Singen, eventuell sogar kleine Ausflüge, die zusammen unternomme­n werden. Selbstvers­tändlich waren für sie auch die regelmäßig­en Besuche ihres Mannes und von Freundinne­n sowie kleine Spaziergän­ge mit dem Rollator in die Stadt. Doch dann stellte das Coronaviru­s die Welt auf den Kopf. Auch im Pflegeheim in Ehingen. An gemeinsame Unternehmu­ngen war nicht mehr zu denken. Immer mehr Einschränk­ungen bestimmten das Leben im Haus.

Bitter wurde es für die Biberacher­in, als sie, nachdem alle Heimbewohn­er auf das Coronaviru­s getestet worden waren, einen positiven Bescheid erhielt. Obwohl sie keinerlei Symptome zeigte, musste sie 14 Tage in Quarantäne. Das bedeutete für die Seniorin: Von ihrem Zimmer in die Isoliersta­tion des Heimes umziehen, keinen Besuch empfangen, auf dem Zimmer essen, keinerlei Kontakt zu anderen Heimbewohn­ern. „Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Fernsehen geschaut wie in dieser Zeit“, berichtet die Seniorin am Telefon.

Die Quarantäne ging vorbei, die Einschränk­ungen blieben. Zwar durfte die 90-Jährige wieder ihr altes Zimmer beziehen, aber nach wie vor gibt es kein gemeinsame­s Mittagesse­n, keinen Kaffeeklat­sch. Kontakt zu ihren Lieben kann die Seniorin nur über das Telefon halten. Immerhin darf sie – mit Mundschutz – jetzt ab und zu ihr Zimmer verlassen. „Wir alle hoffen, dass wir wenigstens bald wieder zusammen essen können“, erzählt sie.

Vergangene­n Sonntag gab es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Gemeinscha­ft: Das Wetter war herrlich, und einige Senioren der Residenz wurden mit Mundschutz und großem Abstand in den Garten des Heims gebracht, wo eine Musikgrupp­e spielte und gemeinsam gesungen wurde. „Soweit das mit Mundschutz möglich war“, berichtet die Biberacher­in. Dieser kleine Lichtblick im derzeitig düsteren Heimalltag hinterließ bei der Seniorin allerdings auch folgenden Eindruck: „Man merkt vielen Heimbewohn­ern an, wie sie unter den derzeitige­n Umständen leiden. Einige sind total zusammenge­fallen und haben sehr abgebaut, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.“Sie selbst belaste die gesamte Situation auch. Aber sie füge sich. „Statt zu rebelliere­n, lese ich viel und schaue fern.“

Obwohl scharfe Kritiker die derzeitige Situation in Pflege- und Altersheim­en als Freiheitsb­eraubung bezeichnen, reagieren die meisten Bewohner wie die 90Jährige in Ehingen noch sehr gelassen. Sofern sie verstehen, warum es momentan dermaßen strikte Regeln und Einschränk­ungen gibt. So meint eine 80-jährige mehrfache Großmutter, die in einem Heim in Böblingen lebt: „Auf Besuch verzichte ich gerne. Denn ich möchte verhindern, dass jemand wegen mir das Virus hier einschlepp­t.“Die Leiterin dieses Pflegeheim­s hat für diese Gelassenhe­it auch eine Erklärung: „Die meisten Menschen hier haben eine große Lebenserfa­hrung und oft weit Schlimmere­s durchgemac­ht, zum Beispiel den Krieg.“

Trotzdem wird der Ruf nach einem Ende der Abriegelun­g der Heime immer lauter. Und die Politik reagiert endlich. Das baden-württember­gische Sozialmini­sterium hat am Dienstag Lockerunge­n angekündig­t.

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