Auf engstem Raum
Kinder zu Hause, Arbeit im Homeoffice: Viele Eltern kommen an ihre Grenzen
GRAVENSBURG - Am Anfang wollte Hugo, fünf Jahre, noch wissen, wann er wieder in den Kindergarten darf. Seit Mitte März ist er nicht dort gewesen. Und inzwischen fragt er auch nicht mehr nach. „Da hat sich eine Resignation breitgemacht“, sagt Stefanie Schuster, 37, Hugos Mutter. „Ein bisschen langweilig“sei es zu Hause, erzählt Hugo. Vor allem Vormittags, wenn der Papa arbeiten muss. Der sitzt zu diesem Zweck neuerdings im Kinderzimmer, weil man da die Tür hinter sich zumachen kann. Und Hugo, seine Mutter, seine ältere Schwester Paula, 7 Jahre, und seine Jüngere Schwester Tilda, 2 Jahre, sind im Wohnbereich. Alle zusammen, den ganzen Tag.
So wie Familie Schuster aus Unterankenreute (Landkreis Ravensburg) geht es derzeit vielen Familien. Die baden-württembergische Landesregierung hat zwar den Kreis der Kinder ausgeweitet, die Anspruch auf eine Notbetreuung in Kita oder Schule haben. Die Eltern müssen jetzt nicht mehr unbedingt einen systemrelevanten Beruf ausüben – sondern nur noch einen, der Präsenzpflicht erfordert. Aber wie die Schusters fallen viele Familien nicht unter die neuen Regeln. Stefanie Schuster, die wie ihr Mann im Homeoffice arbeitet, hat sich damit abgefunden, dass es dabei auch erst einmal bleibt: „Ehrlich gesagt rechne ich nicht mehr damit, dass Schule und Kindergarten vor September wieder regulär öffnen.“
Auch Lale Tatli aus Ravensburg hat für ihre drei Kinder keinen Notbetreuungsplatz beantragt, obwohl sie wohl Anspruch darauf hätte. Aber die Bewerbungsfrist war zu kurz. „Ich war überrumpelt“, erzählt die 37-Jährige. „Da wird tagelang über Mundschutz diskutiert. Aber wenn es um die Notbetreuung in der Kita geht, kommt am Mittwoch um elf Uhr eine E-Mail, dass man sich bis Donnerstagabend anmelden muss.“Sie habe sich hin- und hergerissen gefühlt und schließlich die Betreuung ihres vierjährigen Sohnes Eymen und der Zwillinge Lara und Lina, 17 Monate alt, in den Händen der Schwester gelassen. Auch die Oma hilft aus. Obwohl sie nicht sollte, wie Lale Tatli sehr bewusst ist. „Aber ganz ohne Oma geht es nicht.“
Immerhin muss die Mutter ihren Vierjährigen nicht mehr zum Händewaschen drängen. Das macht Eymen inzwischen sofort, wenn er draußen war. Er weiß auch, wie ein Coronavirus aussieht, es ist eine Kugel mit lauter Zacken dran. Seine Cousine hat ihm den Erreger aufgemalt. „Eymen sieht jetzt überall Bakterien“, erzählt Lale Tatli. „Hier sind Bakterien, da sind Bakterien.“Langsam habe sie das Gefühl, dass es ein bisschen zu viel werden könnte mit der ganzen Hygiene. „Er soll ja auch nicht zu penibel werden.“
Die Universität Bamberg hat 3200 Eltern befragt, wie sie mit der Situation umgehen. 85 Prozent der Mütter und Väter finden es demnach schön, mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. Gleichzeitig fühlen sich 73 Prozent jetzt häufig gestresst – und zwei von drei Befragten oft am Ende ihrer Kräfte.
Gestresst sind aber nicht nur die Eltern. „Das Konfliktpotenzial unter den Geschwistern ist wesentlich höher“, ist Stefanie Schuster aufgefallen. „Wir als Eltern sind ständig Streitschlichter.“Zumal die Kinder unterschiedliche Bedürfnisse haben. Hugo, der Fünfjährige, möchte spielen, toben, springen. Seine ältere Schwester ist schon in der Grundschule und hat Hausaufgaben zu erledigen. „Die erste Woche war richtig schwierig“, sagt Stefanie Schuster. „Wir mussten uns umstellen und neu strukturieren. Seit wir einen Alltag festgelegt haben, geht es.“
Dabei sind die Erfahrungen sehr unterschiedlich. „Manche Familien erleben diese Zeit auch als entspannt“, sagt die Familientherapeutin Gerlinde Fischer aus Mietingen. Sie leitet den Verein „Family Help“, der im Landkreis Biberach systemische Familienberatung anbietet – und in der Corona-Krise gemeinsam mit weiteren Trägern eine TelefonHotline für Eltern organisiert. Für andere Familien werde es hingegen zunehmend schwierig, so Fischer – besonders für die, die nicht naturnah auf dem Land leben oder einen eigenen Garten haben. „Wenn Familien auf beengtem Raum aufeinander hocken, dann kommt es zu Unstimmigkeiten.“
Außerdem seien Vater und Mutter kein Ersatz für den Kontakt mit Gleichaltrigen. „Eltern sind gut als Betreuungspersonen, aber Spielkameraden sind sie nicht.“
„Kinder brauchen andere Kinder, das ist dringend notwendig für ihre Entwicklung“, mahnt auch Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Je länger der Shutdown anhalte, desto größer sei die Gefahr für die Kinder. „Wenn es nur eine kurze Zeit ist, dann ist das nach vierzehn Tagen vergessen. Wenn es aber lange so weitergeht, wird es die Kinder in ihrer Entwicklung nachhaltig beeinträchtigen.“
Nach Hilgers’ Ansicht werden in der Debatte über eine Lockerung der Corona-Beschränkungen falsche Prioritäten gesetzt: Im Fokus stünden Geschäfte und Gewerbebetriebe, bei Spielplätzen oder Kitas sei man hingegen sehr zurückhaltend. „Kinderrechte sollten uns aber nicht weniger wert sein als das Recht auf Gewerbefreiheit“, mahnt der Kinderschutzbund-Präsident. Bei der schrittweisen Öffnung der Kitas sollte man zudem den Förderbedarf der Kinder berücksichtigen, statt wie bisher nur „die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Eltern“.
Das Bundesfamilienministerium hat zwar inzwischen einen Vier-Stufen-Plan zur Wiedereröffnung der Kindertagesstätten vorgelegt – aber der beinhaltet keine konkreten Termine. Letztlich zuständig für die Entscheidung sind ohnehin die Bundesländer.
Die Unsicherheit, wann die Kitas wieder öffnen, beschäftigt auch viele der Eltern, die bei der Hotline von Familientherapeutin Fischer anrufen. „Sie wollen nicht noch eine Woche vertröstet werden, und dann noch eine Woche“, berichtet Fischer. „Sie brauchen Planungssicherheit. Und die ist weg.“