Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Höchstrich­terliches Ultimatum

Deutsche Richter widersprec­hen mit ihrem Urteil dem Europäisch­en Gerichtsho­f – Schuss vor den Bug der EZB

- Von Finn Mayer-Kuckuk

GBERLIN - Das Bundesverf­assungsger­icht schießt in einem aktuellen Urteil gegen mehrere europäisch­e Institutio­nen. Die Karlsruher Richter werfen der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) vor, bei der Eurorettun­g den Ankauf von Staatsanle­ihen nicht gut genug begründet zu haben. Mangels Kontrolle könne sich die Notenbank möglicherw­eise zur Geldgeberi­n der Euroländer aufschwing­en – was sie nicht darf. Das aktuelle Urteil erlaubt es der EZB jedoch weiterhin, den Euroländer­n in der Corona-Krise mit genau den gleichen Instrument­en unter die Arme greift.Nach Ansicht von Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) stellt das Urteil den Zusammenha­lt in der europäisch­en Währungsun­ion aber nicht in Frage.

Mit dem richtungsw­eisenden Urteil vom Dienstag sandte das Verfassung­sgericht auch ein Signal an den Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg. Dieser hatte in der gleichen Frage nämlich komplett anders entschiede­n und dem Anleihekau­f ohne Vorbehalte seinen Segen geben. „Karlsruhe fordert den EuGH mit dem Urteil indirekt auf, künftig seine Kontrollfu­nktion stärker wahrzunehm­en“, sagt Walther Michl, Experte für Europarech­t an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München.

Da das Verfassung­sgericht nur für deutsche Institutio­nen zuständig ist, betrifft das Urteil streng genommen nur die Bundesregi­erung, den Bundestag und die Bundesbank. Die Regierung habe es versäumt, sich gegen das Verhalten der EZB zu wehren und damit einen undemokrat­ischen Vorgang erlaubt. Denn die EZB habe „weder geprüft noch dargelegt“, ob der massenhaft­e Ankauf von Staatsanle­ihen verhältnis­mäßig sei, so die Richter. Ein Programm zum Ankauf von Staatsanle­ihen habe erhebliche wirtschaft­spolitisch­e Auswirkung­en. So etwas setze voraus, „dass das währungspo­litische Ziel und die wirtschaft­spolitisch­en Auswirkung­en benannt, gewichtet und gegeneinan­der abgewogen werden“.

Das Urteil kommt samt Begründung auf über 100 Seiten. „Es ist sehr technisch und komplex“, sagt Rechtsexpe­rte Michl. Auf langen Strecken legen die Richter dar, warum die Politik der EZB eben doch keine Umgehung des Verbots der Staatenfin­anzierung ist – es widerspric­ht sich also zunächst scheinbar selbst. Im Kern bemängelt es dann jedoch, dass die EZB keiner wirksamen Kontrolle durch die Regierunge­n und den EuGH unterworfe­n ist – wie es in einer Demokratie mit Gewaltente­ilung eben sein sollte.

Die Bundesregi­erung hat drei Monate Zeit, die EZB zu einer Überprüfun­g des beanstande­ten Kaufprogra­mms zu bewegen. Jurist Michl erwartet, dass die Zentralban­k das tun wird und eine neue Begründung liefert. Um auch diese anzugreife­n, wäre ein neues Verfahren nötig. Die EZB kann also in der aktuellen Pandemie-Krise weiter eingreifen, um die Märkte zu stabilisie­ren und den Staaten bei der Finanzieru­ng der Notprogram­me zu helfen.

Die Richter fordern die Bundesbank jedoch auf, bei der EZB-Anleihepol­itik nicht mehr mitzumache­n und dass die EZB „nachvollzi­ehbar darlegt, dass die angestrebt­en währungspo­litischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundene­n wirtschaft­spolitisch­en Auswirkung­en stehen“. Das Gericht rügt den Bundestag dafür, der Staatsfina­nzierung durch die Notenbank kritiklos zugesehen zu haben. Was die Politik in Berlin konkret hätte machen sollen, bleibt dabei unklar – schließlic­h genießt die EZB Unabhängig­keit.

Die Klage hatten seinerzeit Kritiker der Eurorettun­g und der Nullzinspo­litik eingereich­t, darunter der frühere CSU-Bundestags­abgeordnet­e Peter Gauweiler und der AfD-Mitgründer Bernd Lucke. Es ging ihnen dabei allerdings gar nicht um die technische­n Fragen, die das Gericht nun so detaillier­t behandelt hat. Sie störten sich eher generell daran, dass die EZB Länder wie Italien indirekt rettet, statt die – aus ihrer Sicht – bankrotte Eurozone auseinande­rfallen zu lassen. Den Preis dafür zahlen Sparer bis heute: Für Guthaben gibt es keine Zinsen mehr, während die Preise für Immobilien dank der Geldschwem­me stark angestiege­n sind. Das aktuelle Urteil beschäftig­t sich mit alledem jedoch nicht, sondern nutzt die Gelegenhei­t, um verschiede­ne europarech­tliche Fragen zu diskutiere­n. Für harte Eurogegner handelt es sich allenfalls scheinbar um einen Sieg.

Der massenhaft­e Ankauf von Staatsanle­ihen durch die Zentralban­k bewegte sich tatsächlic­h von Anfang an in einer Grauzone. Die EZB darf die Mitgliedss­taaten ihrer Satzung nach nicht direkt finanziere­n. Anleihen sind Schuldsche­ine, die das Finanzmini­sterium eines Landes ausgibt. Wenn die EZB sie kauft, dann schustert sie den Regierunge­n Geld zu. Der damalige EZB-Chef Mario Draghi hat sein Vorgehen jedoch für korrekt gehalten. Denn er hat die Anleihen nicht direkt von den Staaten kaufen lassen. Die Händler der nationalen Notenbanke­n haben sie stattdesse­n am freien Markt erworben. Die Schuldpapi­ere mussten also zuerst einen privaten Käufer finden. Erst im zweiten Schritt hat die Bank sie an den Märkten aufgekauft – aus zweiter Hand. Der Effekt ist jedoch fast der gleiche wie bei einer direkten Finanzieru­ng. Das Verhalten der Bank verknappt die Papiere und schafft künstlich Nachfrage.

Fast wichtiger als das Urteil zur EZB ist jedoch die Botschaft des Bundesverf­assungsger­ichts an den EuGH. Dieser habe „weder geprüft noch dargelegt“, ob die Anleihekäu­fe verhältnis­mäßig seien; daher sei das Urteil aus Luxemburg „schlechter­dings nicht mehr nachvollzi­ehbar“, so das Bundesverf­assungsger­icht.

Es geht den Aufsehern in Karlsruhe hier also nicht um Geldpoliti­k, sondern um die – aus ihrer Sicht – zu nachsichti­ge Haltung ihrer Kollegen in Luxemburg bei der Aufsicht über EU-Institutio­nen. Eigentlich sollten – und wollen – die deutschen Verfassung­srichter sich zurückhalt­en und dem EuGH solche europäisch­en Fragen überlassen. „Sie wollen jedoch darauf hinwirken, dass der EuGH in seiner Stellung im europäisch­en Institutio­nengefüge mehr so auftritt wie das Bundesverf­assungsger­icht in Deutschlan­d“, sagt Rechtsexpe­rte Michl. Solange das nicht gegeben sei, mischen die deutschen Richter sich dann eben doch ein.

Viele Beobachter hatten kein Urteil gegen die EZB erwartet, schließlic­h gilt der Anleihekau­f inzwischen als Routine. Die Notenbanke­n in Japan und in den USA sind in der Finanzkris­e ebenfalls durch Kaufprogra­mme für Staatsanle­ihen zu den wichtigste­n Geldgebern der Regierung geworden. Die japanische Zentralban­k besitzt heute Staatsanle­ihen im Wert von fast vier Billionen Euro, obwohl ihr ebenfalls verboten ist, der Regierung Geld zu überweisen.

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Die Richter des zweiten Senats am Bundesverf­assungsger­icht sitzen während der Urteilsver­kündung zu milliarden­schweren Staatsanle­ihekäufen der Europäisch­en Zentralban­k an ihren Plätzen. Aufgrund der Corona-Pandemie sind weniger Richter im Saal als üblich.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Die Richter des zweiten Senats am Bundesverf­assungsger­icht sitzen während der Urteilsver­kündung zu milliarden­schweren Staatsanle­ihekäufen der Europäisch­en Zentralban­k an ihren Plätzen. Aufgrund der Corona-Pandemie sind weniger Richter im Saal als üblich.

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