Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Immer und immer wieder

Mediziner vermuten langfristi­g Anstieg von Zwangsstör­ungen durch Corona

- Von Felix Schröder

GSTUTTGART (dpa) - In der schlimmste­n Phase seiner Erkrankung wäscht Jonas 60 mal am Tag die Hände – so lange bis auf dem Handrücken blutige Furchen zurückblei­ben. Nach dem Einkauf reinigt er minutenlan­g alle Lebensmitt­el: Wer weiß schon, wer das alles angefasst hat, sagt er sich. Jonas, dessen richtiger Name eigentlich anders lautet, hat ein Problem: Er gehört zu zwei Prozent der deutschen Bevölkerun­g, die eine Zwangserkr­ankung haben.

Langfristi­g werden wegen der Corona-Pandemie mehr Patienten an Zwangsstör­ungen – vor allem Waschzwäng­en – erkranken, wie Psychiatri­e-Facharzt Andreas Wahl-Kordon prognostiz­iert. Durch die hohe Präsenz der Pandemie in Medien bekämen viele Angst, die sonst nichts mit Zwang und „Kontaminat­ionsbefürc­htung“zu tun hätten. Die derzeitige Lage treffe aber auch auf einen „guten Nährboden“bei Menschen mit bestehende­n Zwangserkr­ankungen, wie Wahl-Kordon, der Direktor der Oberberg Fachklinik Schwarzwal­d, berichtet.

In seiner Jugend wird Jonas gehänselt, wechselt oft die Schule und zieht sich zurück. 2011 stirbt Jonas' Vater an einem Herzinfark­t. „Da hat es angefangen“, sagt er. Der damals Elfjährige achtet genau auf seinen Herzschlag. Ergeht es ihm ähnlich wie seinem Vater? Bei Brustschme­rzen geht er zum Arzt. Bei einem Knacken im Nacken denkt er an einen Genickbruc­h und fährt ins Krankenhau­s.

Laut Dietrich Munz, Präsident der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer, sind Zwangserkr­ankungen wie in Jonas' Fall häufig mit einem Schicksals­schlag verbunden. „Stress und schwerwieg­ende Lebenserei­gnisse, wie der Tod oder eine schwere Erkrankung von Angehörige­n können eine Rolle spielen.“Aber auch familiäre Konflikte können Zwänge auslösen. Zwangsgeda­nken, aus denen später Zwangshand­lungen entstehen können, basieren laut Wahl-Kordon auch auf genetische­r Veranlagun­g.

Zwangserkr­ankungen beginnen meistens in der Jugend, wie Psychiatri­e-Facharzt Wahl-Kordon sagt. Wer kurz vorm Verlassen des Hauses nachsieht, ob der Herd wirklich ausgeschal­tet ist, sei nicht erkrankt, sagt er. Die Zwangshand­lung müsse täglich vorkommen und insgesamt etwa eine Stunde andauern, um von einer Erkrankung zu sprechen.

So lange der Leidensdru­ck nicht hoch ist und man keine wichtigen Termine durch übermäßige­s Händewasch­en verpasst, hält Wolf Hartmann es nicht für problemati­sch. Er ist Geschäftsf­ührer der Deutschen Gesellscha­ft Zwangserkr­ankungen (DGZ) und führt gerne das Beispiel eines Studenten in den USA an, der bei einem Tagestrip nach Mexiko schlechte hygienisch­e Verhältnis­se erlebt und mit Ekel zurück in die USA fährt. Zurück in seiner Unterkunft erlebt er das Duschen als Wohltat nach einer Belastung und entwickelt später einen Zwang.

Die Bekannten, die von Jonas Krankheits­ängsten wissen, stempeln ihn ab: Stell dich nicht an, sagen sie ihm. Ihm wird bewusst, dass sein Verhalten

ihn immer mehr im Alltag einschränk­t. Jonas denkt über Selbstmord nach, bevor er sich im Februar für eine Therapie entscheide­t. Die aktuelle Corona-Pandemie macht Jonas zusätzlich zu schaffen. Er ist noch etwas vorsichtig­er als zuvor: Er wechselt die Straßensei­te, um Kontakt mit anderen zu vermeiden, oder benutzt Handschuhe, wenn er Geld abhebt. Jonas hat Angst, dass seine Therapie-Fortschrit­te in der CoronaWelt mit Abstandsre­geln und Maskenpfli­cht wieder zunichtege­macht werden. Jonas fürchtet sich vor dem Virus, doch empfindet auch Erleichter­ung: „Jetzt benimmt sich jeder so, wie ich mich ohne Corona schon vorher verhalten habe.“

„Wenn die Krise vorbei ist, dann werden sicherlich eine ganze Menge übrig bleiben, bei denen sich eine Zwangsstör­ung bildet“, sagt Hartmann

von der DGZ. Die Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer hält eine Zunahme an Patienten mit Zwangserkr­ankungen in der aktuellen Situation für realistisc­h. Ganz sicher ließe sich das noch nicht sagen. Zwangsgeda­nken bei bereits erkrankten Menschen könnten sich durch Corona verschlimm­ern. Psychische Erkrankung­en wie Depression­en könnten sich auch verschlech­tern oder Patienten erkranken neu daran.

Jonas lernt in Therapien verschiede­ne Techniken – zusätzlich nimmt er Antidepres­siva ein. Was für andere das Laufen auf glühenden Kohlen ist, bedeutet für ihn, mit der Hand erst die Türklinke und dann sein Gesicht zu berühren. Doch das Händewasch­en ist schon weniger geworden. Für ihn ist das ein Erfolg: Mittlerwei­le wäscht er sie sich nur noch zehn bis 15-mal am Tag.

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FOTO: PIXABAY/BEARBEITUN­G: SZ Menschen mit einem Waschzwang waschen ihre Hände teilweise mehr als 50 mal pro Tag.

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