„Lahme Enten“, gesprengte Brücken und ein toter Soldat
Zeitzeugen erinnern sich an die Einnahme Oberdischingens durch US-Truppen am 23. April 1945
OBERDISCHINGEN - Am 23. April 1945, also gut zwei Wochen vor dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs, ließ sich Oberdischingen von US-amerikanischen Truppe widerstandslos einnehmen. Bereits vor fünf Jahren, anlässlich des 70. Jahrestags dieses Ereignisses, organisierte der Museumsverein Oberdischingen ein Treffen mit Zeitzeugen. Der jüngste Teilnehmer war im Jahr 1945 gerade acht Jahre, der älteste 18 Jahre alt. Rudolf Sautter und Werner Kreitmeier fassten die Erzählungen zusammen.
Ein Zeitzeuge erinnerte sich an zwei Vorfälle, die sich kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner ereigneten: Einige Tage vor der Besetzung erschien der stellvertretende Bürgermeister Georg Rapp auf dem Bauernhof seiner Eltern. Er überbrachte einen „von ganz oben“kommenden Befehl, sein Vater solle mit dem Pferdewagen militärisches Material vom Ersinger Militär-Flugplatz nach Bronnen bei Laupheim bringen. Rapps Mutter gab zu bedenken, dass dies angesichts der totalen Beherrschung des Luftraumes durch feindliche Tiefflieger für den Fahrer des Wagens und die beiden Zugpferde lebensgefährlich wäre. Sie hätten nur diese zwei Pferde. Es sei nicht möglich, beim Verlust eines oder beider Pferde den Hof weiterzuführen. Das Angebot des Bürgermeisters, eines seiner Pferde zur Verfügung zu stellen, kam nicht mehr zum Zuge, obwohl der Wagen bereits verladen dastand: Der örtliche Kommandant des „Volkssturms“, Hans Schöckle, Lehrer in Oberdischingen, verbot den Transport, da das abzutransportierende Material dringend gebraucht werde um Oberdischingen zu verteidigen.
GWenige Tage vor der Besetzung tauchte im Ort eine Gruppe fliehender Nazis auf. Sie fuhren mit einem wohl kurz zuvor geraubten Feuerlösch-Fahrzeug. Sie hielten auf der Bundesstraße (damals Reichsstraße 311) bei Oberdischingen, rissen die Feuerlösch-Einrichtungen aus dem Fahrzeug heraus, um Platz für weitere Personen zu haben, und verschwanden mit dem Fahrzeug in Richtung Süden. Aus den hinterlassenen Lösch-Schläuchen schnitten Oberdischinger Bauern Treibriemen zum Antrieb von Landmaschinen.
GWie Bürgermeister Erich Klumpp in seiner Chronik berichtete (siehe Kasten), wurde die Donaubrücke nach Ersingen durch abrückende Pioniereinheiten der deutschen Wehrmacht unmittelbar vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen gesprengt. Doch nicht nur diese Brücke wurde zerstört. Nahezu alle Donaubrücken zwischen Sigmaringen und Ulm erlitten das gleiche Schicksal. Man wollte damit den Vormarsch der alliierten Truppen aufhalten. Da die Amerikaner aber parallel zur Donau vordrangen, waren sie auf die Brücken gar nicht angewiesen. Dagegen ergaben sich für die Orte am Fluss erhebliche Schwierigkeiten. Ein Zeitzeuge erinnert sich: Die Ersinger Schulkinder der Klassen eins bis vier wurden damals in Oberdischingen unterrichtet. Über einen provisorischen hölzernen Fußgängersteg vorbei an den Trümmern der gesprengten Brücke mussten sie die Donau überqueren. Die Oberdischinger Lehrerin, Fräulein Schaal, begleitete die Kinder nach dem Unterricht bis zum Fluss und wartete ab, bis die Kinder sicher das andere Ufer erreicht hatten. Nach der Besetzung Oberdischingens musste die Brücke auf Befehl der Besatzer unverzüglich wieder instandgesetzt werden. Erstellt wurde eine hölzerne Brücke mit zehn Tonnen Tragkraft. Manche Pferde verweigerten den Übergang über das neue Bauwerk. Sie fürchteten sich vor dem ungewohnten Geräusch, das ihr Hufschlag auf dem Bretterbelag der Brücke erzeugte.
GAlle Teilnehmer des Treffens erinnerten sich auch an den Ersinger Feldflugplatz der deutschen Luftwaffe. Von Oberdischingen aus beobachtete man 1944 mehrere Luftkämpfe zwischen feindlichen und deutschen Flugzeugen. An einem dieser Kämpfe war Johann-Heinrich Guleke mit seiner FW 190 A-8 beteiligt. Seine Maschine wurde getroffen. Er konnte
Gnoch mit dem Fallschirm abspringen; dieser hatte allerdings Feuer gefangen. Der Pilot ertrank in der Donau. Seine Leiche wurde Wochen später am Donauwehr des Öpfinger Kraftwerks gefunden und mit dem Vermerk „Unbekannter Soldat“auf dem Oberdischinger Friedhof begraben. Im Februar 1993 wurden die Trümmer des Flugzeugs aus einem Altarm der Donau bei Öpfingen geborgen und die Identität des Flugzeugführers festgestellt. Im Jahr 2006 stifteten der Oberdischinger Bürger Josef Huber und der Ersinger Steinmetz Fritz Schneider einen mit dem Namen Johann-Heinrich Guleke versehenen Gedenkstein, der das bisherige Holzkreuz mit der Bezeichnung „Unbekannter Soldat“ersetzte und auf der rechten Seite am Kriegerdenkmal aufgestellt wurde.
Unmittelbar vor dem Einmarsch der amerikanischen Kampftruppe flogen mehrfach amerikanische Aufklärungsflugzeuge im Tiefflug über den Ort, um die Lage zu sondieren. Ihres langsamen Fluges wegen nannte man sie „lahme Enten“.
GDass es bei der Einnahme Oberdischingens durch die Amerikaner zu keinerlei Kampfhandlungen und Zerstörungen kam, liegt zum Einen daran, dass weder die noch anwesenden deutschen Soldaten noch der örtliche „Volkssturm“Widerstand leisteten. Der Führer des örtlichen „Jungvolks“, ein im Rheinland ausgebombter, bei der Metzgerei Josef Dosch wohnender und dort auch arbeitender Jugendlicher, zeigte sich in der Herrengasse und wollte Oberdischingen mit einem Gewehr verteidigen. Kreszenzia Dosch verhinderte dieses Vorhaben. Sie schickte den angehenden Helden in den Kühlraum, um etwas zu holen. Dort schloss sie
GJAHRE NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG den jungen Mann während der kritischen Stunden ein.
An den Einmarsch der amerikanischen Soldaten erinnerten sich alle anwesenden Zeitzeugen. Die feindliche Truppe näherte sich Oberdischingen aus Richtung Ehingen und zeitgleich aus Richtung Ringingen. Den aus Richtung Ehingen anrückenden Soldaten kam aus Oberdischingen eine Gruppe belgischer und französischer Kriegsgefangener, die im Paterhaus untergebracht waren, mit weißen Fahnen entgegen. Sie konnten die anrückende Militäreinheit davon überzeugen, dass sie in Oberdischingen keinerlei militärischen Widerstand zu erwarten hätte. An der Straße von Ringingen war es Xaver Mack, der – begleitet von Oberdischinger Buben – mit einer weißen Fahne den anrollenden Panzern entgegenging. Dazu gehörte Mut. Man musste bis zum Schluss damit rechnen, dass das Zeigen einer weißen Fahne von fanatischen Nationalsozialisten als Landesverrat angesehen wurde, der mit standrechtlichem Erschießen zu ahnden war.
GAuch in Oberdischingen kam es zu kritischen Situationen. Die Angreifer waren vermutlich durch die Luftaufklärung darüber informiert, dass im Gasthof Löwen deutsche Soldaten einquartiert waren. Ein Panzer fuhr auf das Gebäude zu und richtete sein Geschütz auf den Gasthaus-Eingang. Der Panzerkommandant forderte die Kapitulation der im Gasthaus vermuteten deutschen Soldaten. Als der Löwenwirt Josef Ott versicherte, dass die Soldaten abgezogen seien, stürmten die Amerikaner das Gasthaus und durchsuchten sämtliche Räume. Die Tür eines verschlossenen Raumes – vom Wirt als Aufenthaltsraum der inzwischen abgezogenen deutschen Soldaten bezeichnet – wurde aufgebrochen. Im Raum fand man Gewehre und Munition. Daraufhin wurde auch der Dachboden und das dort lagernde Korn durchsucht. Man fand einen Karton voller Nazi-Propagandamaterial. Zum Glück für den Löwenwirt glaubten die Besatzer seiner
GAussage, er habe vom Inhalt dieses Raumes nichts gewusst, es seien die Hinterlassenschaften der im Haus einquartiert gewesenen Soldaten.
Diese Soldaten hatten sich in der Dischinger Bachverdolung versteckt. Unterstützt von der Bevölkerung, hatten fünf Soldaten ihre Uniformen gegen Zivilkleidung vertauscht. Der sechste wollte sich befehlsgemäß seiner Einheit wieder anschließen und rannte den Galgenberg hinauf in Richtung Donaurieden. Dabei wurde er von einem Aufklärungsflugzeug entdeckt und an die Bodentruppe gemeldet, die ihn von der Allee aus mit einer Maschinengewehrsalve im Leba-Garten (damals noch Löwen-Otts, heute „Auf der Schießmauer 5“) töteten.
GAuf Befehl der Besatzer musste der Bürgermeister durch den Dorfbüttel verkünden lassen, dass sich bei Androhung der Todesstrafe alle im Dorf befindlichen Wehrmachtsangehörigen am 24. April 1945 am Herrengaßbrunnen einzufinden hätten. Etwa 15 Soldaten meldeten sich. Sie wurden gefangengenommen und später beim Wechsel der Besatzung den Franzosen übergeben.
In Oberdischingen wurden viele Wohnhäuser von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt. Die Zeitzeugen erinnern sich genau, wie die Bewohner der beschlagnahmten Häuser bei Nachbarn oder Verwandten unterkommen mussten. Alle Häuser wurden nach Soldaten und Waffen durchsucht.
GBesonders mutige Buben suchten in abgestellten Militär-Jeeps nach Schokolade und Kaugummi. Wenn die Jeep-Fahrer einen der Jungen dabei erwischten, war eine deftige Strafe fällig. Ein Zeitzeuge erinnert sich, dass auf dem Platz, auf dem heute das Funkenfeuer abgebrannt wird, ein Artillerie-Geschütz stand, mit dem man bis nach Ulm schießen konnte.
GAlle Anwesenden können sich noch daran erinnern, dass zunächst vereinzelt,
GGdann allerdings sämtliche Radioapparate in Rapps Stadel abgeliefert werden mussten. Nur der Pfarrer bekam sein Radiogerät nach einer Woche zurück. Am 11. Mai 1945 wurden sämtliche Schulbücher eingesammelt und hinter dem Friedhof verbrannt.
Inzwischen hatten die Alliierten Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt. Oberdischingen gehörte zur französischen Zone. Die Grenze zwischen amerikanischer und französischer Zone verlief zwischen Donaurieden und Erbach. Am 13. Juli 1945 wurden in Oberdischingen die Amerikaner von Franzosen abgelöst. Bei der französischen Besatzungstruppe befanden sich auch dunkelhäutige Soldaten: Oberdischinger Kinder, aber auch Erwachsene, sahen erstmals in ihrem Leben Dunkelhäutige. Die Bewohner der von den Amerikanern beschlagnahmten Häuser durften wieder zurück, mussten aber einen oder mehrere französische Soldaten aufnehmen. Die französischen Besatzer ließen an der oberen Herrengasse ein Podest anlegen und darauf die Trikolore hissen. Die Gemeinde wurde mit 500 Mark bestraft, „da die Leute beim Hissen und Einholen der Flagge nicht stille hielten“.
GUm von der französischen Besatzungszone in die amerikanische Zone oder umgekehrt zu wechseln, brauchte man einen Passierschein. Als die Grenzposten vom Klosterkutscher Hermann Holl einen Passierschein sehen wollten, verwies der sie auf die Rückseite seines Wagens, dort stehe alles, nämlich der Name und die Adresse des Oberdischinger Klosters. Als die Grenzposten bei der Kontrolle eines anderen Wagens ein geschlachtetes Schwein fanden, zeigte sich der Fahrer überrascht: Das Schwein sehe er zum ersten Mal, er wisse nicht, wie es auf seinen Wagen gekommen sei.
GInteressant war es auf dem Ersinger Flugplatz. Von den dort stehenden Wracks deutscher Kampfflugzeuge konnte man die Ersatztanks abmontieren und sie als Boote gebrauchen. Überall fand man noch von fliehenden Soldaten zurückgelassene oder nur oberflächlich verscharrte Munition. Beim Spielen mit dieser gefährlichen Hinterlassenschaft gab es immer wieder Handverletzungen.
„Das Treffen von Oberdischinger Bürgern hat gezeigt, wie lebendig die Vorgänge aus der Zeit um das Ende des Zweiten Weltkriegs noch bei allen sind, die diese Zeit miterlebt haben“, so das Fazit von Rudolf Sautter und Werner Kreitmeier.
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