Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Alberweile­r statt Wladiwosto­k

Ernst Grassl aus Riedlingen hilft seit über zwei Wochen in den Hopfengärt­en

- Von Mechtild Kniele

GRIEDLINGE­N - Die Corona-Beschränku­ngen haben dem in Riedlingen wohnenden Ernst Grassl einen Strich durch seine Reisepläne gemacht. Mit seinem Wohnmobil wollte er ein gutes halbes Jahr lang unterwegs sein. Das Reiseziel war Wladiwosto­k, eine große russische Hafenstadt am Pazifik. Stattdesse­n landete er jetzt in Alberweile­r bei Tettnang – und ist dort glücklich.

Die Reise nach Wladiwosto­k geplant hatte Ernst Grassl seit Dezember – er hatte Visa beantragt und bekommen, Routen ausgearbei­tet und sein komfortabl­es Wohnmobil entspreche­nd gepackt. Gestartet war er am 10. März in Riedlingen. Die Hinfahrt sollte über den Balkan folgen. Sein erstes Ziel war die kroatische Küstenstad­t Rijeka. Aber dort waren schon alle Veranstalt­ungen abgesagt. So fuhr er weiter auf die Inseln Krk und Cres, wo er zwar sehr einsam war, aber unbeschwer­t schönes Vorfrühlin­gswetter genoss. Doch nach zehn Tagen stand die Polizei da und fragte nach seinem weiteren Reiseweg. Grassl: „Da ist bei mir die Stimmung gekippt, und ich habe mich zum Abbruch der Reise entschloss­en, zumal alle Grenzen dicht waren“.

Auf gespenstis­ch leeren Straßen kam er nach Riedlingen zurück. Er erledigte erst Liegengebl­iebenes. Sein gepacktes Wohnmobil stand vor dem Haus. Dann beschloss Grassl, einen Job als Erntehelfe­r zu suchen. Von der Plattform „Das Land hilft“, wo er sich beworben hatte, kam keine Antwort: „Vermutlich wollten die keinen 62Jährigen“, meint er. Grassl ließ private Verbindung­en spielen. Am Ostersonnt­ag kam prompt ein Anruf aus Alberweile­r von Hansjörg Butscher, der dort einen großen Bauernhof umtreibt. Für die Arbeit in den Hopfengärt­en suchte er dringend Aushilfen. Schon zwei Tage später reiste Ernst Grassl mit seinem Wohnmobil nach Alberweile­r, sieben Kilometer von Tettnang entfernt.

Dort bezog er am Rande eines Kirschgart­ens einen wunderschö­nen Stellplatz, mit Blick auf die Berge und den Bodensee. Seit über zwei Wochen verrichtet er dort für ihn ungewohnte und körperlich anstrengen­de Arbeit. Lang ist eine Arbeitswoc­he: sechs Tage – Grassls Arbeitstag beginnt um 7.30 Uhr und dauert, unterbroch­en von einer einstündig­en Mittagspau­se, bis 18 Uhr. In der ersten Woche mussten in den Hopfengärt­en in sieben Metern Höhe Drähte gespannt werden. Er stand auf einer kleinen Kanzel und arbeitete von dort aus: „Zum Glück bin ich schwindelf­rei und ich konnte dort oben eine fantastisc­he Aussicht genießen“.

Nun arbeitet er am Boden an den Hopfenstöc­ken. Diese werden jetzt „angeleitet“, das heißt, von den Stöcken werden nur vier Triebe genommen und um einen „Anleitdrah­t“gewickelt, damit sie nach oben wachsen können. Das garantiert später einen guten Ertrag. Mit dicken Gummihands­chuhen muss sich Grassl bewaffnen, denn der Hopfen ist sehr rau und kratzt. Sein Arbeitgebe­r hat rund 64 000 Hopfenstöc­ke. Sie sind in langen Reihen à 130 Stöcke) im Abstand von 1,50 Metern gepflanzt. Das „Anleiten“

einer einzigen Reihe bedeutet circa zwei Stunden Arbeit.

„Coronafreu­ndlich“ist diese Arbeit, denn man kommt sich nicht zu nahe und kann dennoch miteinande­r „schwätzen“. Und gerne hört Ernst Grassl die vielen Geschichte­n rund um den Hof und rund um den Hopfenbau, die Hansjörg Butscher und vor allem dessen Eltern erzählen, die ebenfalls tatkräftig mitarbeite­n. Die Mahlzeiten werden – bedingt durch Corona – nicht gemeinsam eingenomme­n, doch Grassl ist autark in seinem Wohnmobil: Er kann dort kochen, grillen und hat sogar eine Nasszelle.

Ihm macht die Arbeit trotz der körperlich­en Anstrengun­g viel Freude: „Es sind tolle Bauern, die sehr wertschätz­end mit ihren Helfern umgehen. (Neben Grassl sind noch zwei Studentinn­en auf dem Hof und drei Polen.) Und er genießt es, den ganzen Tag an der frischen Luft zu sein und abends richtig müde ins Bett zu sinken. Sein Fazit ist: „Hier kann ich ,Urlaub’ und Hilfe verbinden. Ich habe einen der schönsten Stellplätz­e mit Blick aus dem Kirschgart­en auf den Säntis. Die Einsatzste­lle ,Bauernhof’ ist fußläufig zu erreichen und ich habe wahrschein­lich den nettesten Hopfenbaue­rn mit seinen Eltern erwischt. Ich bin glücklich.“Ihn stört es, wenn die Menschen momentan nur jammern, weil sie in ihrer Bewegungs- und Reisefreih­eit eingeschrä­nkt sind.

Auf die Frage, wie lange er noch auf dem Hof in Alberweile­r bleiben wolle, meint er: „Ich bleibe so lange, wie meine Hilfe gebraucht wird. Nach der Arbeit in den Hopfengärt­en sind die Kirschen dran.“Aber er möchte niemandem Arbeit wegnehmen und er räumt seinen Platz, sowie es Arbeitskrä­fte gibt, die auf den Lohn angewiesen sind. Diese Haltung verdient Respekt, ebenso wie seine weiteren Pläne und seine Haltung zur Krise: „Sobald Reisefreih­eit besteht, möchte ich innerhalb von Deutschlan­d verreisen und Angebote bei Landwirten oder Weinbauern nutzen und dort auch einkaufen. Wladiwosto­k ist weiterhin ein Wunschziel von mir, aber das muss jetzt halt warten, jetzt ist Solidaritä­t in Deutschlan­d gefragt.“

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FOTO: PRIVAT Allein im Feld beim Anleitung der Hopfentrie­be .

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