Opfer empfiehlt die Freilassung der Täter
Im Prozess um den Dellmensinger Fackelwurf kommt erstmals ein Mitglied der angegriffenen Roma zu Wort
GULM/DELLMENSINGEN - Am dritten Verhandlungstag im Dellmensinger Fackelwurf-Prozess ist das Ereignis vom späten Abend des 24. Mai 2019 erstmals aus Sicht der Opfer geschildert worden. Ein Mitglied der Roma-Familie, auf die die fünf Angeklagten aus Fremdenhass einen Brandanschlag verübt hatten, saß am Zeugentisch der im Kornhaussaal tagenden Großen Jugendkammer des Ulmer Landgerichts.
Er raucht nur eine Zigarette auf dem Platz zwischen den Wohnwagen, da geht alles ganz schnell: Ein Auto fährt heran, aus dem laute Musik dringt und schließlich von der Beifahrerseite aus eine brennende Fackel fliegt. Das Geschoss landet etwa einen bis zwei Meter neben dem Wohnwagen, in dem seine Frau und sein neun Monate alter Sohn schlafen. Das Auto fährt sofort weiter, er ruft laut „Feuer“, woraufhin weitere Mitglieder der Roma-Gruppe aus allen Richtungen herangeeilt kommen. Darunter auch sein Neffe, der die noch immer brennende Fackel schnappt und ein Stück weg vom Wohnwagen zieht.
So schildert der 27-jährige Pascal M. (Name von der Redaktion geändert) das Geschehen, das sich an dem Freitagabend gegen 23.15 Uhr binnen weniger Sekunden auf der Wiese am Ortsrand von Dellmensingen Richtung Ersingen zugetragen hat. An weitere Details erinnert er sich nur schwer, schließlich liegt der Vorfall schon fast ein Jahr zurück. Darüber hinaus leidet die vierstündige Zeugenvernehmung unter sprachlichen Hürden, die das Gericht trotz zweier Dolmetscherinnen
„Selbst wenn der Wohnwagen getroffen worden wäre, ist nicht davon auszugehen, dass er in Brand geraten wäre.“Aus dem Polizeiprotokoll zur Tatnacht
nur mühsam überwindet, und unter einer bescheidenen technischen Ausstattung in dem Saal, so dass manche Aussagen auch akustisch nur schwer zu verstehen sind.
Dabei sind die äußeren Umstände, unter denen die Tat verübt wurde, mitentscheidend dafür, ob der von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft formulierte Vorwurf des gemeinschaftlichen versuchten Mordes auch am Ende Bestand haben wird. Zwei Merkmale hierfür führt Staatsanwalt Patrick Bader in seiner Anklage auf: Die Angreifer sollen aus niederen Beweggründen und heimtückisch gehandelt haben. Ersteres
sieht er schon in dem Umstand erfüllt, dass sich die Angeklagten „allein durch die Anwesenheit der Roma in Dellmensingen gestört gefühlt haben“. Inwieweit eine rassistische Grundhaltung der fünf jungen Männer im Alter von 18 bis 20 Jahren zur Tat geführt hat und ob sie von langer Hand geplant war, war ein wesentlicher Bestandteil der beiden bisherigen Verhandlungstage und wird es auch künftig sein. Das Merkmal der Heimtücke hängt in hohem Maße davon ab, wie arg- und wehrlos die Opfer gewesen sind.
Deshalb fragt das Gericht die Zeugen immer wieder, ob das Lager der Roma beleuchtet gewesen ist, ob ein Feuer auf dem Platz oder Licht in den Wohnwagen gebrannt hat und sich weitere Mitglieder der Gruppe zum Zeitpunkt des Angriffs im Freien aufgehalten haben – oder ob die Opfer im Schlaf überrascht wurden. Antworten dazu kann Pascal M. dem Gericht nur bedingt liefern. Geschlafen hätten auf jeden Fall seine Frau und das Baby, und zwar im Wohnwagen an der Ecke, in dessen Nähe die Fackel gelandet sei. Er selbst könne das zwar nicht bezeugen, weil er sich bis zum Fackelwurf mehrere Stunden im Wohnwagen seines Bruders aufgehalten habe. Aber seine Frau habe ihm erzählt, dass sie durch die „Feuer“-Rufe aufgewacht sei. Und sie habe Angst gehabt. Deshalb habe man den Wohnwagen nach dem Angriff auch ein Stück vom Straßenrand weggeschoben und sei wenige Tage später nach Ehingen weitergereist. Ob seine Frau auch heute noch Angst habe, wollte der Richter wissen. „Das weiß ich nicht“, antwortete Pascal M..
Eigentlich hätte die 27-Jährige ebenfalls vor Gericht aussagen sollen, tat dies aber nicht, weil sie im achten Monat schwanger sei. Das Gericht leitete daher mit dem Einverständnis des Ehemanns eine Vernehmung der Frau am Mittwochnachmittag
in der Nähe von Böblingen ein – dort hält sich die Familie derzeit mit einer Gruppe weiterer Roma auf, von denen sonst keiner in Dellmensingen dabeigewesen sei. Weitere vom Gericht geladene Zeugen des Brandanschlags befänden sich in Frankreich und kämen nicht nach Ulm, erklärte Pascal M. Wann die Aussage seiner Frau vor Gericht verlesen wird, stand am Mittwoch noch nicht fest.
Ausgesagt haben dagegen mehrere Polizeibeamte, die in der Tatnacht im Einsatz gewesen sind. Es sei anhand der Spurenlage schwierig gewesen, den genauen Ort zu rekonstruieren, an dem die Fackel nach dem Wurf des Angeklagten zum Liegen gekommen sei, bevor sie vom Neffen von Pascal M. weggezogen worden sei, berichtete einer der Ermittler. „Das Gras war tauig.“ Dafür findet sich in den Polizeiakten eine Feststellung, die das Gericht offensichtlich überraschte: „Selbst wenn der Wohnwagen getroffen worden wäre, ist nicht davon auszugehen, dass er in Brand geraten wäre.“Wie die Polizei darauf komme, wollte der Richter wissen. „Das hat sich anhand der objektiven Spurenlage so ergeben“, antwortete ein Beamte. Mehr Aufschluss darüber dürfte im weiteren Prozessverlauf das Gutachten einer Brandsachverständigen geben.
Im Anschluss an die Vernehmung von Pascal M. entschuldigten sich alle fünf Angeklagten nacheinander und stehend bei dem Mann, seiner Familie und den übrigen Roma,
die in Dellmensingen campiert hatten. „Ich schäme mich zutiefst“, sagte der jüngste, zum Tatzeitpunkt noch jugendliche Täter. „Es tut mir Leid, was passiert ist. Wir wollten zu keiner Zeit jemanden verletzen“, beteuerte ein anderer Angeklagter, der die Fackel geworfen hatte. Von einer „Sauerei“spricht der mutmaßliche Fahrer. Sie hofften, dass die Opfer die Entschuldigung annehmen, sagten sie. „Ich nehme sie an“, antwortete Pascal M. Und er fügte hinzu: „Man kann sie freilassen.“Denselben Wunsch hatte ein Unbekannter auch schon im März bei einem Anruf im Gericht geäußert. Die Telefonnummer des Anrufers war bis auf eine Ziffer nach der Ländervorwahl für Frankreich identisch mit der Nummer des Handys, das Pascal M. am Mittwoch bei sich hatte. Er könne sich aber nicht an einen solchen Anruf erinnern, sagte er. Unabhängig davon erklärte einer der Verteidiger: „Dass sie in so einer Situation die Entschuldigungen annehmen und sagen, man solle die jungen Männer freilassen – dafür haben Sie meinen allergrößten Respekt.“
Ob auch das Gericht die demonstrative Reue der Angeklagten würdigt, wird sich am Ende des bis zu 17 weitere Verhandlungstage dauernden Prozesses zeigen.
„Dafür haben Sie meinen allergrößten Respekt.“Ein Verteidiger zu dem Familienvater aus der Roma-Gruppe, der die Entschuldigung der Angeklagten annahm und deren Freilassung empfahl