Aspirin gegen die „Spanische Grippe“
Die Pandemie vor 102 Jahren trat in der Region in drei Wellen auf – Lazarett damals auch in Untermarchtal
GRIEDLINGEN - Seit Wochen vergeht kein Tag, fast keine Stunde ohne Nachrichten über die Corona-Pandemie. Die Menschen rund um den Erdball sind betroffen und besorgt. Regierungen versuchen, noch Schlimmeres zu verhindern mit immer neuen Vorgaben und Anordnungen, Geboten und Verboten. Es war vor 102 Jahren, als gegen Ende des Ersten Weltkriegs eine seuchenartige Krankheit die Menschheit überfiel. Von den 1,8 Milliarden der damaligen Weltbevölkerung starben zwischen 27 und 50 Millionen Menschen an dieser Epidemie, „Spanische Grippe“oder „Spanische Krankheit“genannt. Eine Besonderheit der „Spanischen Grippe“war, dass die Opfer vor allem 20- bis 40-jährige Menschen waren, während das Coronavirus besonders ältere Menschen gefährdet.
Die Verbreitung der für viele Menschen tödlichen Epidemie ging offiziell von Madrid aus, obwohl das Virus vermutlich über Soldaten aus den USA, die in das Kriegsgeschehen eintraten, nach Europa gebracht wurde. Spanien war neutral, hatte wenig Pressezensur und es gab dort keinen Grund, die Seuche zu verheimlichen. Das versuchten aber die in das Kriegsgeschehen verwickelten Staaten, um die eigene Position in militärischer Hinsicht nicht zu schwächen. So entstand der Begriff „Spanische Grippe“. Allgemein verlautete: „Eine merkwürdige Krankheit mit epidemischem Charakter ist in Madrid aufgetreten.
Diese Epidemie verläuft harmlos, keine Todesfälle bisher.“In der Riedlinger Zeitung, tauchte der Seuchenbegriff erstmals am 2. Juli unter „Stuttgart“auf. Da heißt es: „Die sog. Spanische Krankheit tritt auch in Stuttgart auf. Es handelt sich um Grippe, deren Verlauf bis jetzt gutartig ist.“Diese Meldung erschien nicht etwa unter „Amtliches“, sondern eher beiläufig. Es folgte am 5. Juli 1918 die Mitteilung vom 4. Juli unter Riedlingen: „Auch hier wie in mehreren Bezirksorten, tritt die sog. spanische Krankheit [Influenza] auf; die einzelnen Fälle verliefen bisher gutartig.“
Wie war es in Riedlingen? Nur im katholischen Sterberegister sind die Todesursachen genannt, im evangelischen und dem Sterberegister der Stadt finden sich keine Hinweise auf Todesursachen. Die nicht repräsentative Zusammenstellung ergibt folgendes Bild zu dieser Krankheit: 1918 sind seitens der katholischen Pfarrgemeinde St. Georg 69 Personen beerdigt worden im Alter zwischen sechs Wochen und 86 Jahren. 39 Tote waren männlich, 30 weiblich. Davon starben drei männliche und zwei weibliche Personen an der „Spanischen Grippe“. Das jüngste Opfer war sechs Wochen alt, das älteste, eine Untermarchtaler Kloster- und Krankenschwester im Bezirkskrankenhaus, 48 Jahre alt.
Die Todesanzeigen in der Presse enthielten keinen Hinweis auf die Epidemie. Im Sterberegister wird der Begriff „Spanische Krankheit“, Spanische Grippe“oder auch nur „Grippe“verwendet. Ob die sieben an „Lungenentzündung“oder „Lungentuberculose“Verstorbenen ebenfalls dazu gezählt werden müssten, kann nicht beantwortet werden. Evangelischerseits wurden fünf Personen beerdigt, deren Todesursache nicht vermerkt wurde.
Bei den zehn gefallenen oder im Lazarett verstorbenen Soldaten mit bekannter Todesursache kann die „Span. Grippe“nur bei dem 32-jährigen Riedlinger Clemens Braun, in Verbindung mit einer „Hautkrankheit“, nachgewiesen werden. Er starb „plötzlich in einem Barakenlager in Thorn“(Westpreußen, heute Polen).
Nach heutigen Erkenntnissen trat die Epidemie 1918 und 1919 in „drei Wellen“auf. 1919 ist in Riedlingen lediglich noch eine tödliche Infektion Anfang Januar festzustellen, „obwohl die dritte Welle im Frühjahr 1919 eine außerordentlich hohe Letalität [Sterberate] hatte“, wie es in Unterlagen heißt. Damit war die Pandemie für Riedlingen erloschen. Riedlingen zählte damals etwa 2500 Einwohner.
Am 2. Juli 1918 meldete die Ipfund Jagstzeitung, dass wegen Erkrankung des Personals nicht alle Anzeigen gesetzt und auch der redaktionelle Teil gekürzt werden musste. Die Kath. Höhere Töchterschule in Ellwangen musste zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen werden. Gleichzeitig wird in Bayern schon von einer Epidemie geschrieben, die vor allem Menschen in Großbetrieben, wo wenig Abstand möglich ist, befällt. Ebenso sind Personen bei der Straßenbahn, im Telefondienst und im Postzustelldienst gefährdet. In Karlsruhe, Mannheim und Ludwigshafen soll bereits ein Drittel der Bevölkerung von der Krankheit betroffen sein, mutmaßt die Presse.
Zur gleichen Zeit äußerte sich ein Berliner Medizinalprofessor über den gutartigen Charakter der „Spanische Krankheit“, auch „Neue Krankheit“genannt. Schüttelfrost und mehrtägiges Fieber bis zu 40 Grad, Kopf- und Nackenschmerzen sowie die üblichen Grippesymptome seien die Merkmale. Erkrankung der Atmungsund Kreislauforgane sowie Lungenentzündungen und Blaufärbung der Haut waren Krankheitssymptome.
Dr. Wilhelm Mißmahl, Chef des Bezirkskrankenhauses in Riedlingen, hielt bereits am 9. Juli einen Vortrag über ansteckende Krankheiten. Eine Pressemeldung lautet „aufklärend“, dass „eine starke südwestliche Luftströmung die von Spanien herkommende Krankheit über Europa verbreite“. In Stuttgart stieg die Zahl der Erkrankten von 5100 im Juli 1917 auf 11370 im Vergleichsmonat 1918, berichtet die Riedlinger Zeitung.
Schwer betroffen war die kleine Stadt Laichingen, die seit Ende September bis Oktober 41 Todesfälle verzeichnen musste. Ein Arzt war erst seit 7. Oktober vor Ort. Das Alter der Verstorbenen lag mehrheitlich zwischen sechs und 40 Jahren. Königin Charlotte von Württemberg schickte am 15. Oktober ein Beileidstelegramm und eine Krankenschwester dorthin. Das Oberamt Münsingen verfügte schließlich am 22. Oktober, dass auswärtige Personen Laichingen nicht besuchen dürfen, ebenso sollen Laichinger keine Reisen unternehmen. Die Wohnungen erkrankter Personen dürfen von Unbefugten nicht betreten werden. Die Schulen werden bis auf weiteres geschlossen. Am 27. Oktober galt die Epidemie dort als erloschen, wogegen in Ravensburg zu diesem Zeitpunkt alle Schulen geschlossen werden müssen.
Auch das Kloster Untermarchtal meldete Verluste im Kloster, in der Mädchenschule und in den Krankenstationen. Sr. Ivo Burger war schon im Juli bei ihrer Tätigkeit im Riedlinger Bezirkskrankenhaus als Krankenschwester
im Alter von 48 Jahren verstorben. Selbst die Einkleidungsfeier im Oktober musste wegen Erkrankung der Kandidatinnen verschoben werden.
In Ehingen, Rottweil, in Stuttgart, Heilbronn, Leutkirch und Sigmaringen fehlten nach Pressemeldungen bis zu 50 Prozent der Schüler. Die Schulen wurden geschlossen. Sigmaringen öffnete die Schulen wieder am 18. November 1918.
In Riedlingen waren die Schulen als Einquartierungsmöglichkeiten rückziehender Truppen genützt und deshalb geschlossen. Erst nach gründlicher Desinfektion werden die Räumlichkeiten wieder freigegeben. Im Bezirk Riedlingen gab es keine Hinweise auf Schulschließungen wegen der Epidemie.
„Tägliches Gurgeln mit einer Mischung von Wasser und zwei Teelöffeln Wasserstoffsuperoxyd oder essigsaurer Tonerde“wurde empfohlen, Bettruhe sei für den Erkrankten unerlässlich, desgleichen Schutz vor Erkältung. Als Medikament wurde Aspirin verabreicht. Es gab damals noch kein Antibiotikum. Besuche von Krankenanstalten, Vergnügungsund Unterhaltungsstätten mussten gemieden werden. Vorsicht war besonders nötig für schwächliche und kranke Personen. Aus Wien kam am 28. Oktober 1918 die Meldung, dass „der Arzt Dr. Leitner den Streptococeus als den Erreger der epidemischen Lungenentzündung gefunden habe“. Die Heilung erfolge durch Sublimateinspritzung, die Sterblichkeit sei von 80 Prozent auf Null gesunken, berichtete die Riedlinger Zeitung. Gesichtsmasken waren in unserer Gegend nicht üblich, in den USA jedoch weit verbreitet und zum Teil sogar Pflicht. (Quellen: Internet, Riedlinger Zeitung 1918/ 1919, Archive.)
Die medizinische Seite zur Behandlung der „Spanischen Grippe“war damals sehr hilflos im Gegensatz zu heute,, wo in der Forschung mit Hochdruck an der Entwicklung eines Impfstoffes gearbeitet wird. Die Maßnahmen für das Verhalten der Menschen damals und heute sind nahezu gleich.