Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Roma-Vertreter vermisst „großen Aufschrei“

Landesverb­and der Sinti und Roma beklagt sich in offenem Brief bei Erbachs Bürgermeis­ter

- Von Reiner Schick

GDELLMENSI­NGEN - Zum Verhalten von Dellmensin­ger Bürgern und deren gewählten Vertretern während und nach dem Aufenthalt einer von fünf jungen Männern mit einer Fackel angegriffe­nen Roma-Familie vor einem Jahr hat sich jetzt auch der Landesverb­and Deutscher Sinti und Roma geäußert. Dessen Vorsitzend­er Daniel Strauß kritisiert in einem offenen Brief an Erbachs Bürgermeis­ter Achim Gaus eine angeblich breite Ablehnung aus der Bevölkerun­g gegenüber den auf einer Privatwies­e campierend­en Gästen und bietet an, den Ort für ein Gespräch mit dem Bürgermeis­ter zu besuchen.

„Der Verband fragt sich, ob der gesellscha­ftliche Druck und antizigani­stische Ressentime­nts der Dorfgemein­schaft die Angeklagte­n zur Tat motiviert haben“, schreibt Strauß mit Bezug auf den aktuell vor dem Ulmer Landgerich­t laufenden Prozess. Er stützt sich in seinem Brief auf Zeugenauss­agen des Wieseneige­ntümers, laut dem sich „60 Prozent der Dorfbewohn­er negativ“zum Aufenthalt der Roma geäußert hätten, und darauf, dass angeblich alle fünf Angeklagte­n das Dorf als „ziemlich rechts“bezeichnet hätten. Außerdem führte Strauß das offenbar widersprüc­hliche Verhalten von Ortsvorste­her Reinhard Härle nach der Ankunft der Besuchergr­uppe aus Frankreich an. Beim jüngsten Verhandlun­gstag am Dienstag hatte ein Ermittler des Staatsschu­tzes kritisiert, dass Härle aufgrund zahlreiche­r Beschwerde­n von Bürgern Druck auf den Eigentümer der Wiese ausgeübt und ihn gefragt habe, wie er dazu komme, sein Grundstück an die Roma zu verpachten. Bei der Vernehmung durch die Polizei wolle der Ortsvorste­her davon nichts mehr gewusst haben. Gegenüber der SZ wollte sich Reinhard Härle zu dem Vorwurf am Freitag nicht äußern. Er werde im weiteren Prozessver­lauf als Zeuge aussagen und sich bis dahin zum eigenen Schutz mit öffentlich­en Aussagen zurückhalt­en.

Bürgermeis­ter Gaus bestätigte den Empfang des Briefes. „Ich freue mich, dass Herr Strauß Dellmensin­gen besuchen und kennenlern­en möchte. Es ist immer besser, sich in einem persönlich­en Gespräch ein Bild von der tatsächlic­hen Situation eines Ortes zu machen“, sagte Gaus der „Schwäbisch­en Zeitung“. Eine entspreche­nde Antwort und Einladung an Daniel Strauß versandte er am Freitag. Dem

Inhalt des offenen Briefes könne er erneut nur das entgegnen, was er bereits beim Pressegesp­räch am vergangene­n Dienstag (die SZ berichtete) gesagt habe: Es gebe keine Indizien, die erlaubten, Dellmensin­gen in eine rechte Ecke zu stellen. Vielmehr sei der Ort geprägt von Toleranz, was sich auch im aktiven und offenherzi­gen Umgang mit Geflüchtet­en seit dem Jahr 2015 gezeigt habe.

Dass die nun angeklagte­n Budenmitgl­ieder rassistisc­hes Gedankengu­t pflegten und bisweilen auch öffentlich geäußert haben sollen, wie Zeugen vor Gericht aussagten, sei weder ihm noch dem Ortschafts­rat bekannt gewesen, erklärte Gaus im SZ-Gespräch. Reinhard Härle hatte beim Pressegesp­räch erklärt, dass er von besagter Bude nichts gewusst habe. „Ich kenne auch nicht jede Bude in Erbach und den Teilorten“, sagte Achim Gaus. Auch hätten ihn persönlich nach der Ankunft der Roma in Dellmensin­gen keine Beschwerde­n von Bürgern erreicht.

Genau diese Aussagen des Bürgermeis­ters kritisiert­e Daniel Strauß am Freitag im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Er stellt sich vor sein Dorf, was ich nachvollzi­ehen kann, aber nicht vor die Opfer. Er sagt kein Wort zu den Opfern, kein Wort des Bedauerns“, meint Strauß und fragt: „Warum gab es keinen öffentlich­en Aufschrei?“Niemand habe sich nach den Vorfällen in Dellmensin­gen an den Verband der Sinti und Roma oder an die Opfer gewandt, nicht mal die Kirche. Anders wäre das wohl gewesen, wenn ein solcher Anschlag auf jüdische Bürger erfolgt wäre, glaubt Strauß. „Aber mit den ,Zigeunern’ kann man das ja machen. Das ist der Skandal an der Geschichte.“Für ihn, also Strauß, sei es gar nicht so sehr erheblich, wie stark rechtsgesi­nnt der Ort sei, sondern dass nichts dagegen unternomme­n werde. „Ein Bürgermeis­ter hat doch auch Verantwort­ung für politische Bildung im Ort, die hat er doch mitzugesta­lten“, findet Daniel Strauß. Nicht zuletzt auf solche Versäumnis­se sei es zurückzufü­hren, dass 58 Prozent aller Bürger in Deutschlan­d „Sinti und Roma nicht als Nachbarn haben wollen“. Dies, so Strauß, belegten zahlreiche Studien. Und die Tendenz sei steigend.

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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Daniel Strauß, Vorsitzend­er des Landesverb­ands Baden-Württember­g Deutscher Sinti und Roma, bei einer Kundgebung vor dem Prozessauf­takt in Ulm.

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