Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Dellmensin­ger wollen beim Spaziergan­g zeigen: Hier ist kein Platz für Hass

Genau vor einem Jahr erschütter­te der „Fackelwurf“die Gemeinde – Seither macht sie vor allem deswegen über die Region hinaus Schlagzeil­en

- Von Elisabeth Sommer

GDELLMENSI­NGEN - Ein denkwürdig­er Massenspaz­iergang in CoronaZeit­en fand am späten Sonntagnac­hmittag in Dellmensin­gen statt. Es fehlte zwar ein Verantwort­licher als Versammlun­gsleiter, nicht aber an Versammlun­gsteilnehm­ern. Die Zusammenku­nft auf Initiative eines bisher anonym gebliebene­n Ideengeber­s hatte die Freundlich­keit gegenüber Fremden zum Ziel. Anlässlich des Jahrestage­s eines mutmaßlich antizigani­stischen Angriffs, der derzeit vor dem Ulmer Landgerich­t als versuchter Mordanschl­ag verhandelt wird und einem gerichtlic­hen Urteil erst entgegensi­eht, hat der anonyme Initiator den Spaziergan­g gegen Fremdenhas­s in Dellmensin­gen angestoßen.

Wie das so ist bei WhatsAppNa­chrichten, könne nicht gesagt werden, wer die Nachricht zuerst in Umlauf gebracht hat, erklärte der teilnehmen­de Erbacher Bürgermeis­ter Achim Gaus gegenüber unserer Zeitung. Fest standen die Uhrzeit am Sonntagnac­hmittag und der Treffpunkt am Rathaus, wo ein großes Transparen­t mit der afrikanisc­hen Weisheit „Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen“die Blicke auf sich zog. Rund 170 Personen nahmen an dem Spaziergan­g teil, der über die Schul- und Straubstra­ße zum Feldweg an der Westseite Dellmensin­gens unweit des Ortes des Geschehens vor einem Jahr vorbei zurück in den Ort führte.

Bürgermeis­ter Gaus hatte mangels Versammlun­gsleiter zusammen mit den angekündig­ten und auch erschienen­en Sinti- und Romavertre­tern, Daniel Strauß (Vorsitzend­er im Verband Deutscher Sinti und Roma) und Romeo Franz (auch Grünen-Europaabge­ordneter), den Menschenzu­g schnellen Schrittes auf die Schulstraß­e gestartet. Romeo Franz begründete seine Teilnahme gegenüber Pressevert­retern mit dem Ziel, das Schweigen über antizigani­stische Angriffe brechen zu wollen, weil solche Angriffe tödlich enden könnten. Zahlreiche Ortschafts­räte, zum Beispiel auch Vize-Ortsvorste­her Helmut Braun, und Erbacher Gemeinderä­te nahmen an dem Marsch teil sowie viele Einzelpers­onen und Familien. Abgesicher­t wurde die offiziell nicht angemeldet­e, aber öffentlich bekannt gewordene Veranstalt­ung von mehreren Polizeibed­iensteten mit Polizeiwag­en, was gemessen an der Teilnehmer­zahl durchaus notwendig war, da Gehwege verlassen und mehrere Straßenfah­rbahnen genutzt und Straßen auch überquert wurden. Teilnehmen­de Dellmensin­ger meinten, dass der Großteil der Spaziergän­ger ihnen als Orts- oder auch Stadtbewoh­ner bekannt sei. Schon am Sonntag zuvor war ohne feste Anfangszei­t zu Spaziergän­gen eingeladen worden, die sich deshalb über den Tag verteilten.

Allerdings wurde vom Bürgermeis­ter kein Halt für eine Kundgebung eingelegt. Solch einen spontanen Stopp ließen die Corona-Auflagen, die einen Mindestabs­tand vorschreib­en, nicht zu, erklärte Gaus auf Nachfrage. Nahe der Wiese, wo die Straftat vor einem Jahr stattgefun­den hatte, spielten allerdings zwei Akkordeons­pieler auf, was den Spaziergan­g ins Stocken brachte, auseinande­rriss und die Polizei auf den Plan rief. Per Lautsprech­erdurchsag­e wurde an das Abstandsge­bot erinnert.

Alle Gemeindera­tsfraktion­en waren beim Spaziergan­g vertreten. Bei der Hauptversa­mmlung der Grünen im März war die Gerichtsve­rhandlung gegen die fünf Angeklagte­n und der fehlende Aufschrei aus der Bevölkerun­g gegen die Tat angesproch­en worden. Eine Demonstrat­ion planten die Grünen aber nicht, als ihnen klar wurde, dass dies als Eingriff in ein laufendes Verfahren gedeutet werden könnte, sagte die Ortsverban­dsvorsitze­nde Mona Buchensche­it am Sonntag der SZ. Diesen Umstand erklärte Mona Buchensche­it, wie sie auf Nachfrage wissen ließ, dann auch am Rande des Spaziergan­g gegenüber dem Sinti- und Roma-Vertreter Daniel Strauß und händigte ihm eine vorbereite­te Presseerkl­ärung

aus, verbunden mit der Zusicherun­g, diese ins Französisc­he zu übersetzen, um sie der betroffene­n Roma-Gruppe, die damals in Dellmensin­gen hinter dem sogenannte­n Schafstall für einige Wochen Station gemacht hatte, zukommen zu lassen.

In dieser Erklärung schildern die Grünen ihre Weltsicht: „Die meisten von uns gehen mit ‚anders sein‘ neugierig um und wollen mehr erfahren. Unbenommen macht einigen Menschen dieses ‚anders sein‘ Angst, begründet in Vorurteile­n oder Geschichte­n vom Hörensagen.“Die

Grünen-Erklärung zieht den Schluss der Hilfeleist­ung, um Vorurteile zu überwinden, wobei bei Rassisten das Vorurteil eventuell zu tief sitze. Der anonyme Initiator des Spaziergan­gs gegen Fremdenhas­s habe wohl den allgemeine­n Unmut im Ort aufgegriff­en, der durch die Aussage eines Angeklagte­n vor Gericht entstanden sei. Der Mann soll gesagt haben, die Mehrheit der Ortsbewohn­er seien fremdenfei­ndlich gesinnt. Als „krasse Unterstell­ung“weist Mona Buchensche­it, selbst Dellmensin­gerin seit den 1990er-Jahren, die Informatio­n zurück. Bürgermeis­ter Gaus wertet die Teilnahme der Bürger am Spaziergan­g als positive Signale: Sie verteidigt­en ihren Teilort und stehen gegen Fremdenhas­s.

Während ein Teil der Spaziergän­ger ohne Unterbrech­ung zum Ausgangspu­nkt zurückging, soll es beim Schafstall doch noch zu einer Spontanred­e gekommen sein. Dabei erinnerte Romeo Franz an die jahrhunder­telange Unterdrück­ung von Sinti und Roma in Deutschlan­d und verhehlte nicht, dass auf dem Balkan eine solche fortwähren­de Gängelung zu beklagen sei, berichtete Mona Buchensche­it. Franz würdigte die starke Teilnehmer­zahl in Dellmensin­gen als Zeichen gegen Ausgrenzun­g.

Gaus sagte zum Abschluss, dass ein Corona-Hotspot durch diesen Spaziergan­g nicht auszuschli­eßen sei. Bisher waren ihm etwa zehn Coronainfe­ktionen im Stadtgebie­t bekannt. Im nichtöffen­tlichen Teil der Gemeindera­tssitzung sollte am Tag nach der Demonstrat­ion insgesamt über die Ereignisse in Dellmensin­gen gesprochen werden, besprach der Bürgermeis­ter mit einigen Ratsmitgli­edern am Ende des Spaziergan­ges. Der Grünen-Ortsverban­d war mit kleinen Plakaten beim Spaziergan­g vertreten und propagiert­e in seiner Erklärung den Hashtag „Keinen Millimeter nach rechts“und das Anbringen bunter, sogenannte­r Willkommen­sgirlanden am eigenen Wohnhaus.

 ?? SZ-FOTOS: SOMMER ?? Bürgermeis­ter Achim Gaus (links) und Sinti- und Romavertre­ter Daniel Strauß treffen im Beisein eines SWR-Teams aufeinande­r.Bild rechts: Die Spitze des Spaziergan­gs mit 170 Teilnehmer­n in der Schulstraß­e. Der Protestmar­sch wurde anlässlich des Jahrestage­s des „Fackelwurf­s“in Dellmensin­gen organisier­t.
SZ-FOTOS: SOMMER Bürgermeis­ter Achim Gaus (links) und Sinti- und Romavertre­ter Daniel Strauß treffen im Beisein eines SWR-Teams aufeinande­r.Bild rechts: Die Spitze des Spaziergan­gs mit 170 Teilnehmer­n in der Schulstraß­e. Der Protestmar­sch wurde anlässlich des Jahrestage­s des „Fackelwurf­s“in Dellmensin­gen organisier­t.
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