Dellmensinger wollen beim Spaziergang zeigen: Hier ist kein Platz für Hass
Genau vor einem Jahr erschütterte der „Fackelwurf“die Gemeinde – Seither macht sie vor allem deswegen über die Region hinaus Schlagzeilen
GDELLMENSINGEN - Ein denkwürdiger Massenspaziergang in CoronaZeiten fand am späten Sonntagnachmittag in Dellmensingen statt. Es fehlte zwar ein Verantwortlicher als Versammlungsleiter, nicht aber an Versammlungsteilnehmern. Die Zusammenkunft auf Initiative eines bisher anonym gebliebenen Ideengebers hatte die Freundlichkeit gegenüber Fremden zum Ziel. Anlässlich des Jahrestages eines mutmaßlich antiziganistischen Angriffs, der derzeit vor dem Ulmer Landgericht als versuchter Mordanschlag verhandelt wird und einem gerichtlichen Urteil erst entgegensieht, hat der anonyme Initiator den Spaziergang gegen Fremdenhass in Dellmensingen angestoßen.
Wie das so ist bei WhatsAppNachrichten, könne nicht gesagt werden, wer die Nachricht zuerst in Umlauf gebracht hat, erklärte der teilnehmende Erbacher Bürgermeister Achim Gaus gegenüber unserer Zeitung. Fest standen die Uhrzeit am Sonntagnachmittag und der Treffpunkt am Rathaus, wo ein großes Transparent mit der afrikanischen Weisheit „Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen“die Blicke auf sich zog. Rund 170 Personen nahmen an dem Spaziergang teil, der über die Schul- und Straubstraße zum Feldweg an der Westseite Dellmensingens unweit des Ortes des Geschehens vor einem Jahr vorbei zurück in den Ort führte.
Bürgermeister Gaus hatte mangels Versammlungsleiter zusammen mit den angekündigten und auch erschienenen Sinti- und Romavertretern, Daniel Strauß (Vorsitzender im Verband Deutscher Sinti und Roma) und Romeo Franz (auch Grünen-Europaabgeordneter), den Menschenzug schnellen Schrittes auf die Schulstraße gestartet. Romeo Franz begründete seine Teilnahme gegenüber Pressevertretern mit dem Ziel, das Schweigen über antiziganistische Angriffe brechen zu wollen, weil solche Angriffe tödlich enden könnten. Zahlreiche Ortschaftsräte, zum Beispiel auch Vize-Ortsvorsteher Helmut Braun, und Erbacher Gemeinderäte nahmen an dem Marsch teil sowie viele Einzelpersonen und Familien. Abgesichert wurde die offiziell nicht angemeldete, aber öffentlich bekannt gewordene Veranstaltung von mehreren Polizeibediensteten mit Polizeiwagen, was gemessen an der Teilnehmerzahl durchaus notwendig war, da Gehwege verlassen und mehrere Straßenfahrbahnen genutzt und Straßen auch überquert wurden. Teilnehmende Dellmensinger meinten, dass der Großteil der Spaziergänger ihnen als Orts- oder auch Stadtbewohner bekannt sei. Schon am Sonntag zuvor war ohne feste Anfangszeit zu Spaziergängen eingeladen worden, die sich deshalb über den Tag verteilten.
Allerdings wurde vom Bürgermeister kein Halt für eine Kundgebung eingelegt. Solch einen spontanen Stopp ließen die Corona-Auflagen, die einen Mindestabstand vorschreiben, nicht zu, erklärte Gaus auf Nachfrage. Nahe der Wiese, wo die Straftat vor einem Jahr stattgefunden hatte, spielten allerdings zwei Akkordeonspieler auf, was den Spaziergang ins Stocken brachte, auseinanderriss und die Polizei auf den Plan rief. Per Lautsprecherdurchsage wurde an das Abstandsgebot erinnert.
Alle Gemeinderatsfraktionen waren beim Spaziergang vertreten. Bei der Hauptversammlung der Grünen im März war die Gerichtsverhandlung gegen die fünf Angeklagten und der fehlende Aufschrei aus der Bevölkerung gegen die Tat angesprochen worden. Eine Demonstration planten die Grünen aber nicht, als ihnen klar wurde, dass dies als Eingriff in ein laufendes Verfahren gedeutet werden könnte, sagte die Ortsverbandsvorsitzende Mona Buchenscheit am Sonntag der SZ. Diesen Umstand erklärte Mona Buchenscheit, wie sie auf Nachfrage wissen ließ, dann auch am Rande des Spaziergang gegenüber dem Sinti- und Roma-Vertreter Daniel Strauß und händigte ihm eine vorbereitete Presseerklärung
aus, verbunden mit der Zusicherung, diese ins Französische zu übersetzen, um sie der betroffenen Roma-Gruppe, die damals in Dellmensingen hinter dem sogenannten Schafstall für einige Wochen Station gemacht hatte, zukommen zu lassen.
In dieser Erklärung schildern die Grünen ihre Weltsicht: „Die meisten von uns gehen mit ‚anders sein‘ neugierig um und wollen mehr erfahren. Unbenommen macht einigen Menschen dieses ‚anders sein‘ Angst, begründet in Vorurteilen oder Geschichten vom Hörensagen.“Die
Grünen-Erklärung zieht den Schluss der Hilfeleistung, um Vorurteile zu überwinden, wobei bei Rassisten das Vorurteil eventuell zu tief sitze. Der anonyme Initiator des Spaziergangs gegen Fremdenhass habe wohl den allgemeinen Unmut im Ort aufgegriffen, der durch die Aussage eines Angeklagten vor Gericht entstanden sei. Der Mann soll gesagt haben, die Mehrheit der Ortsbewohner seien fremdenfeindlich gesinnt. Als „krasse Unterstellung“weist Mona Buchenscheit, selbst Dellmensingerin seit den 1990er-Jahren, die Information zurück. Bürgermeister Gaus wertet die Teilnahme der Bürger am Spaziergang als positive Signale: Sie verteidigten ihren Teilort und stehen gegen Fremdenhass.
Während ein Teil der Spaziergänger ohne Unterbrechung zum Ausgangspunkt zurückging, soll es beim Schafstall doch noch zu einer Spontanrede gekommen sein. Dabei erinnerte Romeo Franz an die jahrhundertelange Unterdrückung von Sinti und Roma in Deutschland und verhehlte nicht, dass auf dem Balkan eine solche fortwährende Gängelung zu beklagen sei, berichtete Mona Buchenscheit. Franz würdigte die starke Teilnehmerzahl in Dellmensingen als Zeichen gegen Ausgrenzung.
Gaus sagte zum Abschluss, dass ein Corona-Hotspot durch diesen Spaziergang nicht auszuschließen sei. Bisher waren ihm etwa zehn Coronainfektionen im Stadtgebiet bekannt. Im nichtöffentlichen Teil der Gemeinderatssitzung sollte am Tag nach der Demonstration insgesamt über die Ereignisse in Dellmensingen gesprochen werden, besprach der Bürgermeister mit einigen Ratsmitgliedern am Ende des Spazierganges. Der Grünen-Ortsverband war mit kleinen Plakaten beim Spaziergang vertreten und propagierte in seiner Erklärung den Hashtag „Keinen Millimeter nach rechts“und das Anbringen bunter, sogenannter Willkommensgirlanden am eigenen Wohnhaus.