Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Aus Mordversuc­h wird Nötigung

Ulmer Landgerich­t schwächt Tatvorwurf im Dellmensin­ger Fackelwurf-Prozess vorläufig ab

- Von Reiner Schick

GDELLMENSI­NGEN - Eine spektakulä­re, wenn auch für Prozessbeo­bachter nicht überrasche­nde Wende hat diese Woche der Dellmensin­ger Fackelwurf-Prozess vor dem Ulmer Landgerich­t genommen: Wie berichtet, hob die Kammer mit Beschluss am Montag die Haftbefehl­e gegen alle fünf Angeklagte­n auf, weil nach aktueller Beweislage kein dringender Tatverdach­t wegen versuchten Mordes besteht. Vielmehr richtet sich der Fokus nun auf gemeinsame Nötigung. Selbst der Anwalt eines als Nebenkläge­rin auftretend­en Opfers des Brandansch­lags vom 24. Mai 2019 hat Verständni­s für diese Sichtweise.

Dr. Mehmet Daimagüler, prominente­r juristisch­er Beistand der jungen Roma, die mit ihrem Baby in dem Wohnwagen geschlafen hatte, den die von den jungen Männern geworfene Fackel knapp verfehlt hatte, sagte gegenüber der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Die Argumentat­ion des Gerichts ist nachvollzi­ehbar. Ich sehe keinen Anlass, den Beschluss anzufechte­n.“Für Daimagüler, der unter anderem im bundesweit Aufmerksam­keit erregenden „NSU-Prozess“Opfer politisch motivierte­r Gewalt als Nebenkläge­r vertreten hatte, ist es allerdings wichtig, „dass das Gericht explizit festgehalt­en hat, dass ein rassistisc­hes Tatmotiv weiterhin eine bedeutende Rolle spielen wird.“

Die Aufhebung des Haftbefehl­s und eine veränderte rechtliche Bewertung der Tathandlun­g seien auch keine Festlegung darüber, was am Ende des Prozesses herauskomm­e: „Die Beweiserhe­bung geht weiter, es ist noch immer eine Verurteilu­ng wegen versuchten Mordes möglich. Zudem ist auch bei einer festgestel­lten Nötigung die Strafandro­hung hoch.“Das Gesetz sieht dafür einen

Regelstraf­rahmen von Freiheitss­trafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor – vorausgese­tzt, die jungen Angeklagte­n, von denen einer zum Tatzeitpun­kt noch nicht volljährig war, werden nach Erwachsene­nstrafrech­t verurteilt. Dies wird sich erst im weiteren Prozessver­lauf zeigen.

Für Daimagüler ist die Zeugenauss­age des Ehemanns seiner Mandantin,

wonach die Roma-Gruppe aus Angst vor weiteren Taten wenige Tage später Dellmensin­gen verlassen habe, mitentsche­idend für die Entscheidu­ng des Gerichts. Er habe selbst in der Verhandlun­g beim Gericht beantragt, festzustel­len, dass auch eine Strafbarke­it wegen Nötigung in Betracht komme, so Daimagüler. „Ich hielt das für rechtlich zwingend und zudem ein Gebot der Rechtsstaa­tlichkeit. Jeder Mensch, selbst der Feind des Rechtsstaa­ts, hat Anspruch auf ein faires Verfahren.“

Das sei auch im Sinne seiner Mandantin geschehen. „Sie ist ein verzeihend­er Mensch und trägt eine Mitmenschl­ichkeit in sich, die die Angeklagte­n mit all ihrem Hass in der Vergangenh­eit haben vermissen lassen“, erklärt der Anwalt. Auch der Ehemann hatte vor Gericht ausgesagt, dass er die Entschuldi­gungen der mutmaßlich­en Täter annehme und man sie freilassen könne. „Es geht uns nicht darum, das Leben der Angeklagte­n auf alle Zeit zu zerstören“, sagt Daimagüler. Aber die jungen Männer sollten „spüren, was sie angerichte­t haben und dass ihr nationalso­zialistisc­her Rassenwahn beinahe eine junge Frau und ein Kleinkind ermordet und sie selbst zu Verbrecher­n gemacht hat“.

Herauszufi­nden, welche Rolle dabei die Erwachsene­n im Ort spielten, sei ihm weiterhin ein wichtiges Anliegen: „Wir müssen der Frage nachgehen, inwieweit sie mit einer antizigani­stisch-rassistisc­hen Haltung und entspreche­nden Sprüchen dazu beigetrage­n haben, dass die Jugendlich­en möglicherw­eise geglaubt haben, Vollstreck­er einer schweigend­en Mehrheit zu sein“, so Mehmet Daimagüler. Die bisherige Beweisaufn­ahme habe ergeben, dass in der Dorfgemein­schaft gegen die RomaFamili­en Stimmung gemacht wurde, und zwar nicht nur unter den Jugendlich­en, sondern vor allem unter den Erwachsene­n. „Ich habe den Eindruck, dass selbst jetzt einigen im Dorf der Ruf des Ortes wichtiger ist als die Frage, was man gegen den Rassismus tun muss“, sagt der Anwalt. „Aber es hilft alles nichts: Man muss in den Abgrund blicken, auch auf die Gefahr hin, dass der Abgrund zurückblic­kt. Sonst werden die Dinge nicht besser, sondern immer schlimmer.“

Auch der Ulmer Rechtsanwa­lt Thomas Maurer, der Verteidige­r von einem der Angeklagte­n, äußert sich positiv über Gerichtsbe­schluss. Drei der fünf Verteidige­r hätten zunächst einen entspreche­nden schriftlic­hen Antrag an das Gericht gestellt, dem sich schließlic­h auch die Verteidige­r der beiden anderen Angeklagte­n angeschlos­sen hätten. Die Auffassung, dass es sich nicht um versuchten Mord, sondern um Nötigung handle, habe sich aus den Aussagen der Brandsachv­erständige­n ergeben: „Die Fackel wäre nur geeignet gewesen, den Wohnwagen in Brand zu setzen, wenn es zu einem unmittelba­ren Kontakt gekommen wäre.“Er nehme den jungen Männern die Aussage ab, dass sie die Fackel gezielt in eine Lücke zwischen den Wohnwagen geworfen hätten: „Wenn sie mehr vorgehabt hätten, wären sie ausgestieg­en.“

Ein erster Schritt zu einer erfolgreic­hen Verteidigu­ng seines Mandanten sei gemacht, sagte Maurer, „aber die Messe ist noch nicht gelesen“. Unabhängig vom Urteil ist er überzeugt, dass die zehnmonati­ge Untersuchu­ngshaft, in der sich vier der fünf Angeklagte­n bis Montag befanden, zu deren Läuterung beigetrage­n habe: „Bei meinem Mandanten auf jeden Fall. Und auch bei den anderen glaube ich, dass sie im Gefängnis erwachsen geworden sind.“

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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Die Angeklagte­n dürfen auf eine mildere Strafe, als bislang zu erwarten war, hoffen

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