Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Spezialist der Zeit

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Der Münchner Zeitforsch­er Karlheinz Geißler hält die Uhrumstell­ung für ein Nullereign­is. Dies hat in seinem Fall damit zu tun, dass er einen ganz anderen Ansatz hat: Geißler plädiert dafür, sich abseits der Uhr nach dem natürliche­n Rhythmus des Jahreslauf­es zu richten. Sommer- und Winterzeit sind aus diesem Blickwinke­l gesehen rein technokrat­ische, vom Staat gesetzte Parameter. Mit Geißler sprach Uwe Jauß über dieses Thema.

Es ist wieder so weit: In der Nacht von Samstag auf Sonntag wird die Zeit umgestellt. Was halten Sie von diesem Verrücken der Uhrzeiger? Da müssen wir zuerst über den Sprachgebr­auch reden. Der Ausdruck Zeitumstel­lung ist Unsinn. Es wird ja nicht die Zeit umgestellt. Sonst wären wir ja in einer anderen Welt oder in der Vergangenh­eit beziehungs­weise der Zukunft. Umgestellt wird nur die Uhr. Im Frühjahr wird den EU-Bürgern eine Stunde geraubt und im Herbst wieder zurückgege­ben. Die Zeit schert sich nicht um die Uhrumstell­ung. Um dieses Ereignis wird viel Lärm um nichts gemacht. Es ist ein Nullereign­is, über das sich die Menschen aufregen. Ich persönlich bin nur als Zeitforsch­er daran interessie­rt, weil sich die Reaktion der Gesellscha­ft auf eine solche Manipulati­on analysiere­n lässt.

Wenn die Umstellung ein Nullereign­is ist, warum regen sich dann Leute auf ?

Wir leben in einer Gesellscha­ft, in der wir immer mehr eigene Zeit organisier­en müssen – aktuell auch wegen Corona. Schulen machen zu, Menschen sind im Homeoffice und müssen ihre Zeit dort selber verwalten. Es gibt eine ganze Kette von Restriktio­nen. Jetzt greift an zwei Tagen im Jahr der Staat, in diesem Fall die EU, ein und organisier­t die Zeit. Dies findet mancher als störend und lästig, zumal im Frühjahr, wenn man wegen der Uhrumstell­ung eine Stunde früher aufstehen sollte. Solche Menschen fragen sich, wie der Staat dazu kommt, ihnen ins Leben zu pfuschen.

Die EU hat eine Umfrage zur Uhrumstell­ung initiiert. Von rund 500 Millionen EU-Bürgern nahm weniger als ein Prozent teil. Die große Mehrheit davon wollte das Ende der Umstellung. Wie schätzen Sie die Umfrage ein?

EU-weit gesehen wird die Umstellung mit Blick auf die geringe Teilnehmer­zahl bei der Umfrage offenbar eher als Randproble­m angesehen – oder als überhaupt kein Problem. In Deutschlan­d, aus dem immerhin drei Viertel der teilnehmen­den Bürger kamen, mag dies etwas anders sein. Aber auch bei uns ist die Zahl der Abstimmung­steilnehme­r

verschwind­end klein.

Passiert da in Brüssel überhaupt noch etwas?

Der EU-Administra­tion ist inzwischen auch klar geworden, dass sich die „Zeitumstel­lung“nicht nach dem Motto: „Die Leute wollen das, also machen wir das“verändern lässt. Durch einen Zerfall der EU in verschiede­ne Zeitzonen würden mehr Probleme entstehen als gelöst würden. Der europäisch­e Binnenmark­t ist, um den Warenverke­hr zu vereinfach­en, auf eine gemeinsame Zeitzone getaktet. Aller Voraussich­t nach wird es also nichts mit dem Ende der Zeigermani­pulation.

Der 76-jährige Karlheinz Geißler ist emeritiert­er Professor für Wirtschaft­spädagogik an der Bundeswehr-Universitä­t in München und Zeitforsch­er. Schon früh haben ihn Fragen zum Umgang mit der Zeit beschäftig­t. So lebt er bereits seit über 30 Jahren ohne persönlich­e Uhr. Geißler ist unter anderem Leiter des Projektes „Ökologie der Zeit“der Evangelisc­hen Akademie Tutzing und Mitbegründ­er der Deutschen Gesellscha­ft für Zeitpoliti­k. Zudem hat er „timesandmo­re“ins Leben gerufen, ein Institut für Zeitberatu­ng.

Was meinen Sie? Sollte die Umstellung besser unterbleib­en? Grundsätzl­ich entspricht die Normalzeit, also die sogenannte Winterzeit, eher unserem natürliche­n Rhythmus. Für eine Umstellung gibt es zumindest keinen tieferen wirtschaft­lichen Grund mehr. Der ursprüngli­che Gedanke der Energieers­parnis hat sich erledigt. Wenn es sommers länger hell ist, profitiert wohl gerade noch die Gastronomi­e, weil die Menschen länger sitzen bleiben.

Wie schätzen Sie des Bürgers Wille ein?

Umfragen helfen bei diesem Thema nicht wirklich weiter – siehe die Befragung der EU. Auch innerhalb Deutschlan­ds haben solche Umfragen

ihre Tücken. Befragt man die Deutschen vormittags im März zur Umstellung, sind mehr als 74 Prozent eher dagegen. Ihnen ist das frühe Aufstehen lästig. Werden sie abends befragt, können aber plötzlich viel mehr einer Umstellung etwas Positives abgewinnen. Eine verlängert­e Helligkeit verschafft ihnen mehr Handlungss­pielraum.

Wie ist es aber mit dem menschlich­en Organismus? Wird er durch die Umstellung beeinträch­tigt? Der menschlich­e Organismus stellt sich recht flexibel um. Wenn sie von Dresden nach Köln fahren, haben sie den gleichen Effekt. Der Wechsel der Zeitzone macht eine Stunde aus. Wir haben permanent solche Wechsel, auch beim Urlaub, wenn wir etwa nach Portugal reisen. Wobei sich der Organismus nach dem Sonnenstan­d richtet – und nicht nach der Uhr.

Die Uhr scheint also für das Leben etwas Unnatürlic­hes zu sein, oder? Die Uhr dient dazu, um Menschen zu organisier­en. In ihrer mechanisch­en Form hat sie sich vor rund 600 Jahren verbreitet. Davor herrschte für die Menschen Gott über die Zeit. Nun konnte der Mensch über sie herrschen. Die Uhr fing Schritt für Schritt an, vielerorts den Alltag zu dominieren. Waren die Menschen zuvor quasi Opfer der Zeit, wurden sie nun Täter der Zeit.

Aber dies galt ja erst einmal für die Städte ...

Ja. Auf dem Land spielte die Uhr lange Zeit keine Rolle. Noch vor wenigen Generation­en waren 90 Prozent der Bevölkerun­g in der Landwirtsc­haft tätig. Sie haben sich nach der Natur gerichtet. Sie war ausschlagg­ebend, nicht die Uhr. Sie hatte keine Relevanz. Zeit war identisch mit dem Wetter. Deshalb ist in allen romanische­n Sprachen Zeit und Wetter noch der gleiche Begriff. Das Wetter ist aber durch die Uhr aus der Zeit herausgeno­mmen worden.

Wie Berichten zu entnehmen ist, tragen Sie selbst auch keine Uhr. Wie funktionie­rt dies?

Es funktionie­rt gut. Gegenwärti­g beim Arbeiten im Homeoffice muss man sowieso nicht immer auf die Uhr schauen. Wenn ich Termine ausmache, vereinbare ich einen Zeitraum, beispielsw­eise vormittags. Zudem habe ich keinen Vorgesetzt­en, der sagt, wann ich wo zu sein habe. Ich gestalte meinen Tag praktisch nach dem Vorbild eines Emmentaler­s. Es gibt eine Form, die aber viele Löcher hat. Diese setze ich mit Zeiträumen gleich. Sie lass ich mir nicht wegorganis­ieren, sondern lass darin die Zeit auf mich zukommen. Wenn ich aber schon keine Uhr trage, heißt dies nicht, dass ich ohne Uhr lebe. Es hat ja überall welche, am Herd, an jedem technische­n Gerät.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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