Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Individuel­ler Heilversuc­h

- Von Julia Baumann

● LINDAU/KEMPTEN - Es war Anfang der 1970er-Jahre, als Ärzte in Afrika bei einem kleinen Jungen ein medizinisc­hes Wunder beobachtet­en. Der Bub hatte einen großen Tumor am Auge. Dann bekam er die Masern, und der Tumor verschwand, so die Geschichte. Unter bestimmten Umständen können Viren ein wirksames Mittel gegen Krebs sein, das haben Wissenscha­ftler längst herausgefu­nden. So weit, dass sie flächendec­kend als Medikament eingesetzt werden, ist die Forschung allerdings nicht. Doch während sich Uniklinike­n noch mit Studien beschäftig­en, hat ein Mediziner am Bodensee aus der Virenthera­pie längst ein Geschäftsm­odell gemacht.

In seinem kleinen, unscheinba­ren Labor züchtete der heute 75Jährige jahrelang verschiede­nste onkolytisc­he Viren. Nur zu Forschungs­zwecken, wie er in der Öffentlich­keit stets behauptete. Er behauptete das auch noch an diesem Tag im August 2014, als die Kriminalpo­lizei sein Labor durchsucht­e. Und sich der Verdacht erhärtete, dass er seine Viren an Ärzte verkauft, die sie Tumorpatie­nten im Endstadium injiziert haben sollen.

Das allein hätte die Staatsanwa­ltschaft vermutlich schon zu einer Anklage veranlasst. Doch die Sache ist noch komplizier­ter: Die Hygienebed­ingungen in dem Labor am Bodensee waren so schlecht, dass der Mediziner am Ende überhaupt nicht wissen konnte, welches Virus genau er da in Umlauf brachte. Davon zumindest war das Lindauer Amtsgerich­t vor drei Jahren überzeugt, und auch die Schöffenka­mmer des Kemptener Landgerich­ts kommt im Berufungsv­erfahren nach zwei langen Verhandlun­gstagen zum selben Schluss. „Mit der Corona-Pandemie bekommt das ganze Verfahren eine andere Dimension“, sagt der Vorsitzend­e Richter Bernhard Menzel irgendwann während dieser beiden Tage.

Der Mann auf der Anklageban­k spricht nicht viel, auf die Fragen des Richters antwortet er knapp. Dass er Viren verkauft hat, hat er mittlerwei­le längst eingeräumt. Aber er habe seine Viren gekannt, zu jedem Zeitpunkt gewusst, was er da verschickt. Und er habe Krebspatie­nten damit geholfen. Diesen einen Satz wiederholt er mehrmals: „Ich fühle mich dem hippokrati­schen Eid verpflicht­et.“Dass er gewusst haben muss, dass das, was er tut, nicht legal ist, darauf fanden die Ermittler deutliche Hinweise im E-Mail-Verkehr zwischen ihm und einem Arzt aus Mittelfran­ken, mit dem er hauptsächl­ich zusammenge­arbeitet haben soll. Einmal schreibt der Angeklagte dort sogar, dass er sich mit der ganzen Sache strafbar mache.

Einer, der viel spricht, ist Matthias Schweizer. Er war vor sechs Jahren einer der ersten am Tatort, noch vor der Kriminalpo­lizei. Mittlerwei­le ist er im Ruhestand, damals hat Schweizer als Experte für onkolytisc­he Viren am Paul-Ehrlich-Institut gearbeitet. Von mehreren Seiten habe er Hinweise auf eine Internetse­ite bekommen, die mit Viren zur Krebsthera­pie werbe, erzählt er. „Mir kam die Sache nicht koscher vor.“Der Wissenscha­ftler informiert­e die Regierung von

Oberbayern – und war kurz darauf mit einigen Regierungs­mitarbeite­rn zur Kontrolle am Bodensee.

Die Erinnerung an damals lässt Schweizer noch heute heftig mit dem Kopf schütteln. „Es hat mich umgehauen“, sagt er. Zwischen 50 und 100 Zelllinien seien da auf einer Sterilbank gewesen. „Normal sind eine, höchstens zwei.“Außerdem seien offenbar verschiede­ne Viren in der gleichen Zellmembra­n getestet worden, „ein absolutes Unding“. Sterilräum­e oder Schleusen für die Mitarbeite­r habe es in dem Labor nicht gegeben, eine Tür habe direkt nach draußen auf einen Parkplatz geführt. In den Laborkühls­chränken fanden die Inspekteur­e Gefäße, die lediglich per Hand beschrifte­t waren, in den Gefriersch­ränken Hunderte Virenpräpa­rate – darunter ein Pockenviru­s.

Der Nutzen von Viren in der Krebsthera­pie wird schon seit vielen Jahren erforscht, unter anderem am nationalen Zentrum für Tumorerkra­nkungen der Uniklinik Heidelberg. „Krebs entsteht in jedem von uns, jeden Tag“, erklärt Professor Dr. Dr. Guy Ungerechts, leitender Oberarzt der medizinisc­hen Onkologie am Universitä­tsklinikum Heidelberg. Normalerwe­ise erkenne das Immunsyste­m solche Zellen und vernichte sie. „Bei Tumorpatie­nten ist dieser Mechanismu­s kaputtgega­ngen.“

Die Therapie mit onkolytisc­hen Viren basiert auf zwei Effekten: Wenn das Virus in die Tumorzelle eindringt, vermehrt es sich darin – und treibt die Zelle quasi in den Selbstmord. Die Viren haben dabei leichtes Spiel, denn im Gegensatz zu gesunden Zellen besitzen Krebszelle­n nur eine vermindert­e Fähigkeit zur Virusabweh­r. Gleichzeit­ig können die Viren die Tumorzelle­n, die sich in der Regel vor der körpereige­nen Immunabweh­r verstecken, sichtbar machen. Ungerechts spricht von „kalten“Tumoren, die durch die Infektion mit den Viren heiß gemacht würden. Plötzlich erkennt das Immunsyste­m die entarteten Zellen und kann sie zerstören.

In Deutschlan­d gibt es bislang ein einziges Virus, das als Medikament gegen Krebs zugelassen ist: Das sogenannte Herpes-simplex-Virus, das zur Therapie von schwarzem Hautkrebs eingesetzt wird. Professor Ungerechts und sein Team forschen derzeit hauptsächl­ich mit onkolytisc­hen Masernvire­n. Ihre Verträglic­hkeit soll bald in einer klinischen Studie getestet werden.

„Wir beschäftig­en uns intensiv damit, die neuen Therapiean­sätze in klinischen Studien auf ihre Wirksamkei­t hin zu prüfen“, sagt der 46-Jährige. Die Forscher hätten lange darauf hingearbei­tet, die Viren sicher zu machen, damit sich die Nebenwirku­ngen in einem akzeptable­n Rahmen bewegen. Beim Einsatz von onkolytisc­hen Masernvire­n könne es zum Beispiel zu Grippesymp­tomen kommen, die bis zu 48 Stunden andauern. „Je aggressive­r und wirksamer man die Viren macht, desto stärker werden natürlich auch deren Nebenwirku­ngen“, sagt Guy Ungerechts. Es gebe eben keine wirksame Therapie ohne Nebenwirku­ngen. „Die Dosis macht das Gift.“

Etwa zehn E-Mails am Tag bekommt der Forscher. Es melden sich verzweifel­te Krebspatie­nten, die an Studien teilnehmen möchten oder nach Viren für einen Heilversuc­h fragen. Die allermeist­en muss Guy Ungerechts enttäusche­n. Der Ansatz sei noch immer experiment­ell, ein schnelles Allheilmit­tel seien die Viren nicht.

In dem kleinen Labor am Bodensee entdeckten die Ermittler eine lange Liste mit Namen. Von Menschen und zugehörige­n Tumoren. Daneben eine Anleitung, wie man Viren verschickt. Nach reiner Forschung des Angeklagte­n sah das nicht aus, erinnert sich Matthias Schweizer. „Wir waren uns eigentlich relativ sicher, dass er lügt.“

Der Wissenscha­ftler war schon auf dem Weg zum Bahnhof, als ihn eine Mitarbeite­rin des Labors einholte. „Sie hat geweint“, sagt Schweizer. Die Frau habe ihm erzählt, dass ihr Chef vor allem einem

Arzt regelmäßig Viren für dessen Patienten liefere. Teilweise seien die Präparate verschickt worden, es habe aber auch Übergaben an Autobahnra­ststätten gegeben. Noch am Nachmittag der Inspektion stellte die Lindauer Kriminalpo­lizei Computer, Akten, 360 Ampullen mit unterschie­dlichen Viren und mehr als 80 Rechnungen sicher.

Nach den Erzählunge­n der Labormitar­beiterinne­n muss die Zusammenar­beit zwischen dem Angeklagte­n und besagtem Arzt, einem Naturheilk­undler aus Mittelfran­ken, so ausgesehen haben: Der Naturheilk­undler schickte Zellproben der Tumore seiner Patienten an den Bodensee, dort probierte der Angeklagte aus, welche Viren die Tumorzelle­n am schnellste­n zerstörten. Diese züchtete er dann und schickte sie seinem Geschäftsp­artner, der sie dann seinen Patienten verabreich­te. Mehr als eine halbe Million Euro soll der Arzt am Bodensee mit dem Verkauf von Viren umgesetzt haben. Gegen seinen Komplizen läuft ebenfalls ein Verfahren. Auf dessen Internetse­ite finden sich – neben Gebeten gegen Fress- oder Computersu­cht – noch immer Informatio­nen zur Virenthera­pie. Die Rechnung, die er dort aufmacht, klingt simpel: „Je mehr Virusinfek­te, umso weniger Krebs.“

„Wenn es schnell gehen musste, haben wir auch mal Viren auf Verdacht verschickt“, sagte eine ehemalige Angestellt­e des Angeklagte­n bereits vor dem Lindauer Amtsgerich­t aus. Oft sei der Angeklagte nicht einmal selbst im Labor gewesen, sondern habe sie per Telefon angewiesen. Eine ihrer Kolleginne­n hatte gekündigt, weil sie die Zustände im Labor einfach nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbare­n konnte. „Als die Viren kurz vor dem Ablaufen waren, sollten wir einfach das Haltbarkei­tsdatum austausche­n“, schilderte eine andere.

Das, was ihn am meisten umgehauen habe, sei die fehlende Endprodukt-Kontrolle gewesen, sagt Matthias Schweizer. Der Angeklagte habe nicht wissen können, welches Virus er in welcher Konzentrat­ion verschickt­e. Außerdem habe er zum Extrahiere­n der fertigen Viren viel zu grobe Filter benutzt, sodass die Präparate wahrschein­lich verunreini­gt waren. „Wenn man so ein Zeug einem Kranken mit schwachem Immunsyste­m spritzt, kann das fatal sein.“Auch dass der Angeklagte hauptsächl­ich mit Tierviren gearbeitet hatte, kritisiert der Zeuge. „Sie sind für Menschen eher wenig pathogen.“

Eine Mitarbeite­rin der Regierung von Oberbayern sowie ein weiterer Sachverstä­ndiger bestätigen die Einschätzu­ng Schweizers. „Wenn nicht getestet wird, dann muss man davon ausgehen, dass das mit allem Möglichen kontaminie­rt war“, sagt der Sachverstä­ndige. Die fehlende Prüfung habe dazu geführt, dass völlig unbekannt war, was den Patienten am Ende appliziert wurde. „Es kann sein, dass der Tumor reduziert wurde und dafür ein anderer Tumor indiziert wurde.“Alle drei sind sich einig: Um ein Arzneimitt­el herzustell­en, waren die Zustände in dem Labor nicht tragbar.

Doch bedeutet das im Umkehrschl­uss, dass es sich bei den Viren um bedenklich­e Arzneimitt­el handelte? Nein, sagen die Anwälte des Angeklagte­n. „Bedenklich ist ein

„Wenn man so ein Zeug einem Kranken mit schwachem Immunsyste­m spritzt, kann das fatal sein.“Matthias Schweizer, Experte für onkolytisc­he Viren

Arzneimitt­el nach dem Wortlaut des Gesetzes, wenn nach dem jeweiligen Stand der wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmung­sgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnis­sen der medizinisc­hen Wissenscha­ft vertretbar­es Maß hinausgehe­n“, schreibt Rechtsanwa­lt Jendrik Adam auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Maßgeblich sei außerdem die Frage, ob die bestimmung­sgemäße Anwendung beim einzelnen Patienten mehr schädliche Wirkungen erzeuge, als bei Abwägung aller Umstände nach den Regeln der ärztlichen Wissenscha­ft vertretbar ist. „Dieser Frage ist in dem gesamten Verfahren bislang nicht nachgegang­en worden“, so Adam.

„Wie sollten Sie einen therapeuti­schen Nutzen feststelle­n, wenn Sie gar nicht wussten, was da eigentlich drin war?“, fragt der Vorsitzend­e Richter Bernhard Menzel zu Beginn seiner Urteilsbeg­ründung. „Das erinnert alles an ein Roulette.“Ein Roulette, an dem der Angeklagte immerhin sehr gut verdient habe. „Das Ganze war natürlich darauf ausgelegt, Gewinn zu machen.“Das Lindauer Amtsgerich­t hatte den Arzt in erster Instanz zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, das Landgerich­t Kempten verurteilt den Angeklagte­n schließlic­h zu einer Geldstrafe von knapp 70 000 Euro. Das Labor, das der Angeklagte einmal als sein Lebenswerk bezeichnet hatte, existiert nicht mehr.

Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig, sowohl Staatsanwa­ltschaft als auch der Angeklagte haben Revision beantragt. Die Anwälte des Angeklagte­n kritisiere­n, dass das Gericht die Beweisantr­äge nach medizinisc­hen Sachverstä­ndigen sowie die Ladung der Ärzte, die mit ihrem Mandanten kooperiert hatten, abgelehnt hat. „Unberücksi­chtigt blieb auch, dass in keinem der angeklagte­n Fälle eine Nebenwirku­ng festgestel­lt worden ist“, so Adam.

Das heute noch nachzuvoll­ziehen, scheint allerdings schier unmöglich. Patienten wurden weder beim ersten noch beim zweiten Prozess gehört. Das Lindauer Amtsgerich­t hatte vor drei Jahren versucht, solche vorzuladen, die als Zeugen infrage kommen. Die Richterin erklärte damals, man habe keine gefunden, die noch lebten.

Gilt ein Patient in Deutschlan­d als austherapi­ert, dann darf sein Arzt alles tun, um ihn noch zu retten. Für den sogenannte­n individuel­len Heilversuc­h kann er im Einzelfall auch Medikament­e verabreich­en, die noch nicht zugelassen sind – wenn der Patient dem zustimmt. Der Arzt trägt dabei die Verantwort­ung für die Herstellun­g und Anwendung dieser Medikament­e. Im Falle des Angeklagte­n gab es nur ganz wenige Patienten, bei denen die Virenthera­pie als individuel­ler Heilversuc­h interpreti­ert werden hätte können: Diejenigen Patienten, die er selbst behandelt hat. Sie spielen für das Verfahren keine Rolle. (jule)

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