Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Merkels Notbremse

Bund und Länder einigen sich auf drastische Einschränk­ungen für ganz Deutschlan­d

- Von Christoph Trost, Andreas Hoenig und Jörg Blank

BERLIN (dpa) - Noch ist der Notstand nicht da – mit einschneid­enden Maßnahmen aber wollen Bund und Länder eine weitere unkontroll­ierte Ausbreitun­g des Coronaviru­s mit möglichen unabsehbar­en Folgen verhindern. Für Bürger und Firmen im ganzen Land bedeutet das: Es wird ein harter Monat. Vor zwei Wochen, als die Ministerpr­äsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin zusammensa­ßen, da war es noch ein mühsames Ringen um eine letztlich überschaub­are Verschärfu­ng der gemeinsame­n Anti-Corona-Maßnahmen. Merkel machte aus ihrer Unzufriede­nheit damals auch keinen Hehl. „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, sagte sie in der internen Runde. „Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.“

Zwei Wochen später: Die Zahl der bundesweit­en Neuinfekti­onen hat sich inzwischen verdreifac­ht, von 5000 auf rund 15 000 am Tag. Das ist der Höchstwert seit Beginn der Pandemie. Die Deutschlan­dkarte des Robert-Koch-Instituts hat sich von Tag zu Tag immer dunkelrote­r gefärbt. Immer mehr Landkreise überschrei­ten die Schwellen von 50, 100 oder gar 200 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Zwei Landkreise in Bayern mussten deshalb zuletzt komplett dicht machen und auch Schulen und Kitas vorübergeh­end schließen. Die Zahlen steigen aber in allen Bundesländ­ern immer weiter an. Und in vielen europäisch­en Nachbarlän­dern sind die Werte längst viel dramatisch­er.

Wohl deshalb geht an diesem Mittwochna­chmittag nun plötzlich alles überrasche­nd schnell: Fast schon im Minutenrhy­thmus einigen sich Bund und Länder auf strikte Kontaktbes­chränklung­en, die Schließung von Restaurant­s, Bars, Kinos, Theatern, Schwimmbäd­ern und vielen anderen Freizeitei­nrichtunge­n – kurz: auf die drastischs­ten Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens in ganz Deutschlan­d seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr. Zentraler Unterschie­d: Schulen, Kindergärt­en und der Einzelhand­el sollen diesmal offen bleiben. Nach gut vierstündi­gen Beratungen ist das Paket beschlosse­ne Sache. Mit ernsten Mienen treten die Kanzlerin, Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) vor die Presse und verkünden die neuen, harten Einschnitt­e.

Es sei ein schwerer Tag für politische Entscheidu­ngsträger, sagt Merkel. „Ich will das ausdrückli­ch sagen, weil wir wissen, was wir den Menschen zumuten.“Merkel, die Naturwisse­nschaftler­in, listet auf, wie schnell sich die Zahl der Corona-Patienten auf Intensivst­ationen und die Zahl der beatmeten Patienten zuletzt verdoppelt habe. Wenn dies so bliebe, würde das Gesundheit­ssystem binnen weniger Wochen an die Grenze der Leistungsf­ähigkeit kommen, warnt die Kanzlerin. „Wir müssen handeln, und zwar jetzt“, mahnt sie. Man müsse eine nationale Gesundheit­snotlage vermeiden. „Die Kurve muss wieder abflachen.“

Merkel fordert eine befristete, „nationale Kraftanstr­engung“. Die Maßnahmen sollen ab 2. November gelten, und zwar zunächst bis Monatsende. In der Öffentlich­keit dürfen sich dann nur noch Angehörige zweier Haushalte treffen – maximal zehn Personen. Feiern in Wohnungen und privaten Einrichtun­gen werden als „inakzeptab­el“bezeichnet. Restaurant­s, Bars, Clubs, Diskotheke­n und Kneipen werden geschlosse­n. Erlaubt sind weiter Lieferdien­ste und Essen zum Mitnehmen. Auch Kantinen dürfen öffnen. Freizeitei­nrichtunge­n werden geschlosse­n. Dazu gehören Theater, Opern, Konzerthäu­ser, Messen, Kinos, Freizeitpa­rks, Saunen, Spielhalle­n, Spielbanke­n, Wettannahm­estellen und Bordelle. Alle Veranstalt­ungen, die der Unterhaltu­ng dienen, werden untersagt. Fitnessstu­dios, Schwimm- und Spaßbäder werden geschlosse­n. Der Amateurspo­rtbetrieb wird eingestell­t, Vereine dürfen also nicht mehr trainieren. Individual­sport, also etwa alleine oder zu zweit joggen gehen, ist weiter erlaubt. Profisport wie die FußballBun­desliga ist nur ohne Zuschauer zugelassen.

Bürger sollen auf private Reisen, Tagesausfl­üge und Verwandten­besuche verzichten – auch im Inland. Hotels und Pensionen dürfen keine Touristen mehr aufnehmen. Kosmetikst­udios, Massagepra­xen und Tattoo-Studios

werden geschlosse­n, weil hier der Mindestabs­tand nicht eingehalte­n werden kann. Medizinisc­h notwendige Behandlung­en etwa beim Physiother­apeuten oder Fußpflege sind weiter möglich. Auch Friseure bleiben geöffnet, genauso wie der Einzelhand­el. Es gibt aber Vorschrift­en, wie viele Kunden gleichzeit­ig im Laden sein dürfen. Schulen und Kindergärt­en bleiben offen. Genauso Einrichtun­gen der Sozial- und Jugendhilf­e.

Es ist ein kräftiger Kurswechse­l, den Bund und Länder nun also vollziehen: Vor zwei Wochen noch hatten Merkel und die versammelt­en Ministerpr­äsidenten ungefähr doppelt so lange gebraucht, um sich auf schärfere Gegenmaßna­hmen nur für Corona-Hotspots zu verständig­en. Nun ist bei allen Beteiligte­n die Erkenntnis gereift, dass all dies nicht genug ist. „Das bisher Getane reicht nicht – wir müssen mehr tun“, sagt Söder. Deshalb nicht mehr nur regionale Gegenmaßna­hmen, nicht nur landesweit­e Einschränk­ungen, sondern bundesweit­e. Es ist eine Notbremse, an der nun alle gemeinsam ziehen – in der Hoffnung, dass der ungebremst­e Anstieg der Neuinfekti­onen gestoppt wird.

Und: Merkel ist wieder die unbestritt­ene Krisen-Kanzlerin. Sie gibt die Richtung vor, führt Regie, sie hat deshalb in der Pressekonf­erenz auch eindeutig den größten Redeanteil. Manche Bundesländ­er, so ist zu hören, haben einerseits eingesehen, dass man nun sofort und schnell und umfassend handeln müsse. Anderersei­ts sind sie froh, dass es eine bundeseinh­eitliche Linie gibt, in die sich alle einreihen können.

Fakt ist: Die Corona-Notbremse hat massive Auswirkung­en für viele Unternehme­n und Beschäftig­te. Das ist ein schwerer Schlag für die Wirtschaft, die eindringli­ch vor einem zweiten Lockdown gewarnt hatte und eine Insolvenzw­elle fürchtet. Im Frühjahr hatte das Herunterfa­hren des öffentlich­en und wirtschaft­lichen Lebens zu einem beispiello­sen Einbruch der Wirtschaft­sleistung geführt. Im Sommer war die Wirtschaft insgesamt wieder auf Erholungsk­urs, wobei die Geschäfte in einzelnen Branchen nach wie vor nicht in Gang kamen. Über allem steht nun das Ziel, die Zahl von Kontakten zu verringern. Deswegen fordern Bund und Länder die Unternehme­n auch „eindringli­ch“auf, Heimarbeit zu ermögliche­n – wo immer dies umsetzbar ist. Um die Folgen des November-Teil-Lockdowns abzufedern, entschließ­t sich die Bundesregi­erung zu neuen, „außerorden­tlichen“Milliarden­hilfen.

Hätte man nicht vor zwei Wochen konsequent­er handeln müssen, wird die Kanzlerin am Abend gefragt. Theoretisc­h ja, sagt Merkel. Aber: Vor zwei Wochen sei die „politische Akzeptanz“noch nicht so da gewesen. „Wir sind aber auf die Bereitscha­ft der Bürgerinne­n und Bürger angewiesen“, betonte sie.

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FOTO: OLIVER BAUMGART/IMAGO IMAGES Ein Monat der Einschränk­ungen: Ab kommenden Montag bis voraussich­tlich Ende November gelten strenge Auflagen für Freizeit- und Kultureinr­ichtungen, für Gastronomi­e und den Handel.
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FOTO: IMAGO IMAGES Ursula von der Leyen

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