Der vorerst letzte Abend ...
Am Samstag vor dem Kultur-Lockdown nutzen die Menschen noch einmal die Chance für Musik, Theater, Kino
● NEU-ULM/ULM - Thomas Dietrich streift seine Maske ab, er klemmt sie unters Kinn und verschafft sich Luft. Aber nicht wortwörtlich, nicht für seine Lunge. Das Atmen fällt ihm nicht schwer an diesem herbstkühlen Samstag vor dem Eingang des Theaters Ulm. Aber etwas hat sich in ihm angestaut, das jetzt mit Hochdruck raus muss.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, so beschreibt er die momentane Krise der Kultur. Gerade noch war Dietrich zu Gast im Theater, „Pink Guerilla“und „Die Dreigroschenoper“laufen an diesem letzten Oktobertag, doch am Montag sollte die kulturelle Vollbremsung folgen. Theater, Museen, Kinos schließen. Winterschlaf.
Dietrich trifft diese Corona-Pause nicht nur als Besucher – als Kritiker und Regisseur ist er auch ganz unmittelbar betroffen. „So ein Theaterbesuch ist total sicher. Es gibt eine Reihe Abstand, jeder Platz ist dokumentiert und namentlich festgelegt“, sagt er. „Da finde ich es eine Unverschämtheit, wenn Theater in den Corona-Regeln teilweise mit Bordellen gleichgesetzt werden.“Dass Theaterbesuche schon Infektionsketten ausgelöst hätten, sei ihm nicht bekannt. Die Vorstellung fand Dietrich an diesem Abend „ganz großartig“. Umso tiefer scheint jetzt der Schmerz zu sitzen.
Ortswechsel. Im Halbschatten einer Backsteinwand hängen Kinoposter neben Konzertplakaten – ein Programm, das politische Beschlüsse in Luft aufgelöst haben. Hier, vor dem Eingang des Ulmer Roxy, halten zwei Frauen einen Plausch, sie stellen sich vor als Simone und Theresa. Ein
Tischchen, zwei Flaschen Bier, ein Thema. „Letztens bin ich noch todesmutig in die Dreigroschenoper gegangen“, scherzt Simone und schmunzelt. Aber Spaß beiseite: „Ich habe es mir in letzter Zeit oft dreimal überlegt, ob ich ein Event besuche.“Sie findet: „Es wird uns allen viel abverlangt. Vor allem aber den Künstlern, Veranstaltern, Technikern.“
„Ich bin ein spontaner Typ“, sagt Theresa. Schon der erste Lockdown light habe sie deshalb Nerven gekostet, als sie im Grenzgebiet gleich zwei Verordnungen im Blick haben musste, eine für Bayern, eine für Baden-Württemberg. „Die Leichtigkeit ist verloren gegangen“, sagt Theresa. Sie zeigt Verständnis für die neuen Maßnahmen, aber sie plagen auch Sorgen: „Die Debatte spitzt sich wieder zu. Die Stimmung wird krasser, Corona-Leugner werden jetzt wohl noch lauter.“Theresa und Simone wollen jetzt noch einmal Musik live erleben und mit dem „Popschorle“Konzert verabschiedet sich das Roxy in die Pause. „Postpunk mit Mindestabstand“, erklärt Simone.
Frostweiß leuchtet die Schrift vor dem Neu-Ulmer Dietrich-Theater. Drinnen, am Ticketschalter, brennt das Licht schon deutlich wärmer und Menschen stehen Schlange für Popcorn und Film. Ein junger Mann und eine Frau schnappen gerade frische Luft vor der Spätvorstellung. Kinos werden wieder schließen, wie konnte es so weit kommen? „War ja klar“, sagt sie. „Zu viele Leute haben sich nicht an die Regeln gehalten. Die Gemeinschaft hat für sie nicht gezählt.“Sie selbst arbeite im Bereich der klinischen Studien und hätte sich mehr Rücksicht auf alte und schwache Menschen gewünscht. Mit Andreas hat sie sich heute trotzdem zum vorerst letzten Kinogang verabredet,
„wenn nicht jetzt, wann dann?“Sie erzählt gerade noch vom „ersten Lockdown“, da korrigiert er sie: „Wir hatten hier keinen echten Lockdown, sondern eine ausgedehnte Ausgangssperre. Und das ist jetzt wieder so.“Er fühlt sich in seiner Freiheit jedenfalls nicht eingeschränkt. Er verstehe den Frust der Kulturschaffenden, die sich um Hygienekonzepte gründlich bemüht haben, aber er sieht Lücken im System: „Ein Hygienekonzept auf dem Papier ist die eine Sache. Aber wie es praktiziert wird ...“Die Zahl der Infektionsketten, die gerade nicht mehr nachvollziehbar sind, sei außerdem viel zu hoch. „Heute haben wir Halloween. Die Zahlen werden noch einmal hochschnellen.“
Ein Plakat am Theater Ulm empfiehlt noch: „Bleiben Sie zu Hause, wenn Sie krank sind.“Ein Poster verspricht Becketts „Warten auf Godot“, stattdessen beginnt das Warten auf die Rückkehr der Kultur. Karin Struppe ist gerührt, als sie aus der letzten Vorstellung kommt: „Ich ärgere mich über die Schließung. Die Bühnen haben sich doch auf die Umstände eingestellt, sie geben sich so viel Mühe. Deshalb habe ich jetzt an einige Politiker Briefe geschrieben.“Ihre Schreiben gingen an Vertreter aus der Region, aber auch an die große Politik in Berlin. Die Krise trifft aus ihrer Sicht nicht nur Theaterkassen oder Freizeitpläne. „Ein Stück Seele geht da verloren“, sagt Struppe. „Ich leite einen Blockflötenkurs für ältere Menschen. Die ziehen sich immer stärker zurück.“Manche hätten monatelang nicht ihr Haus verlassen. Doch sie bleibt vorsichtig in ihrer Kritik: „Ich möchte in dieser Zeit auch nicht Politiker sein.“