Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Eine Erfolgsges­chichte – aus der Not geboren

Berufswuns­ch Lehrer, Ingenieur oder Arzt Wovon jesidische Kinder träumen – Spenden ermögliche­n den Start in ein besseres Leben

- Von Claudia Kling

● icht zur Schule gehen zu können: Der 15-jährige Salam weiß, wie sich das anfühlt. Er hat diese Erfahrung schon einmal gemacht. 2014 und 2015 war das. In diesen beiden Jahren war der jesidische Junge zusammen mit seinen fünf Geschwiste­rn und seinen Eltern auf der Flucht im Nordirak, nachdem die Terrormili­z „Islamische­r Staat“sein Dorf im Shingal-Gebiet angegriffe­n hatte. Erst als die Familie eine Unterkunft im Camp Mam Rashan in der Nähe der kurdischen Provinzhau­ptstadt Dohuk fand, konnte Salam wieder zur Schule gehen – und zwar „sehr gerne“, wie er in einem Videotelef­onat erzählt. Seit Monaten muss er darauf erneut verzichten – wegen der Corona-Pandemie, die auch im Irak dazu geführt hat, dass landesweit Schulen und Universitä­ten geschlosse­n wurden. Die Zahl der Neuinfekti­onen ist inzwischen gesunken, deshalb soll am

10. Januar der Unterricht wieder losgehen. Ein Tag, auf den Salam seit Monaten gewartet hat. Der 15-Jährige muss einiges nachholen, wenn sein Berufswuns­ch – Lehrer oder Ingenieur – Wirklichke­it werden soll.

Salam steht stellvertr­etend für Zehntausen­de jesidische Kinder, die mit ihren Eltern seit der Flucht aus dem Shingal-Gebiet in den Flüchtling­scamps bei Dohuk leben. Die älteren von ihnen haben erlebt, wie der IS Anfang August 2014 in ihre Dörfer einfiel, wie Tausende Menschen sofort getötet und weitere Tausende verschlepp­t wurden. Die Kinder haben die Flucht überstande­n, haben Hunger und Elend ausgehalte­n. In den Camps, in denen sie seit circa fünf Jahren wohnen, sind sie zwar in Sicherheit, doch auch hier ist die Not groß – vor allem in der Corona-Krise. Viele Eltern haben kein regelmäßig­es Einkommen und sind auf Hilfe angewiesen. Denjenigen, die bislang als Tagelöhner in der Landwirtsc­haft gearbeitet haben, ist das Einkommen weggebroch­en, weil sie die Camps nicht mehr verlassen konnten. Vielleicht erklärt auch das den Hunger vieler junger Jesiden nach einer guten Schulbildu­ng. Ihnen reicht es offenbar nicht mehr, Gärtner und Landwirte zu sein, wie es die Jesiden seit Jahrhunder­ten waren. Sie lernen Englisch, Arabisch, auch Türkisch, um einen Beruf zu finden, der sie unabhängig macht von den Almosen anderer.

NEs ist eine wahre Erfolgsges­chichte, von der Shero Smo und Amer Abo, die Leiter der von der „Schwäbisch­en Zeitung“unterstütz­ten Flüchtling­scamps Mam Rashan und Sheikhan berichten. Von 60 Schülern in einem Jahrgang machten derzeit rund 50 Abitur – mit der Aussicht, anschließe­nd studieren zu können. Insgesamt sei es in den vergangene­n fünf Jahren trotz aller Schwierigk­eiten mehr als 600 Schülerinn­en und Schülern gelungen, ihre Schulausbi­ldung mit dem Abitur abzuschlie­ßen.

„Bildung hat für die Jesiden einen ganz anderen Stellenwer­t bekommen in den vergangene­n Jahren“, sagen Smo und Abo. Die Eltern wünschten sich inzwischen, dass ihre Kinder Ärzte, Lehrer oder Ingenieure werden. Das wäre vor wenigen Jahren, als die Jesiden noch weitgehend zurückgezo­gen in der bergigen Shingal-Region lebten, so nicht denkbar gewesen. Damals war es für sie nicht so wichtig, dass ihre Kinder eine gute Schul- und Berufsausb­ildung haben. Das wenige, was sie zum Leben brauchten, konnten sie größtentei­ls mit ihrer Hände Arbeit erwirtscha­ften. Doch der IS hat ihre Lebensgrun­dlagen in der Shingal-Region zunichte gemacht. Neben den zerstörten Dörfern blieben nach dem Abzug der Terrormili­z verminte Felder zurück, auf denen sich wegen der tödlichen Gefahr kein Getreide anbauen lässt. Auch deshalb wohnen nach wie vor circa 250 000 Jesiden in Flüchtling­scamps,

obwohl die irakische Zentralreg­ierung in Bagdad auf eine Rückkehr in ihre Heimatdörf­er drängt und eine Prämie von 1200 Dollar für Rückkehrer in Aussicht gestellt hat.

In den Camps mag es eng, ärmlich und staubig sein – aber es gibt auch Lichtblick­e in der Not: „Die Mädchen haben hier viel bessere Bildungsch­ancen als in unseren Heimatdörf­ern“, sagt der 41-jährige Lehrer Salam Yusef, der seit fünf Jahren an der Schule in Mam Rashan unterricht­et, im Skype-Interview. Im Shingal-Gebiet seien die Wege bis zur nächsten Schule mitunter recht weit gewesen. Das habe zur Folge gehabt, dass viele Mädchen ohne Abschluss blieben, kaum lesen und schreiben gelernt haben. „Inzwischen können sie genauso wie ihre Mitschüler Abitur machen und anschließe­nd studieren“, sagt Yusef, der bis zur Zerstörung seines Dorfes Tel Benat im südlichen Shingal-Gebiet durch den IS auch dort als Lehrer gearbeitet hat. Die jesidische­n Eltern hätten in den vergangene­n fünf Jahren viel dazugelern­t, sagt der 41-Jährige, der selbst Vater von fünf Kindern ist. „Sie sehen es inzwischen mit Stolz, wenn ihre Kinder etwas anderes werden wollen, als sie selbst sind.“

Ein wenig stolz auf das, was in den vergangene­n Jahren erreicht wurde, sind auch die beiden CampLeiter Shero Smo und Amer Abo: Mehrere jesidische Schüler aus den Camps hätten im irakweiten Vergleich mit besten Abiturnote­n abgeschnit­ten, berichten sie. Das ebnet den Jugendlich­en den Weg an eine staatliche Universitä­t, wo sie gebührenfr­ei studieren und in einem Internat wohnen können. „Aber ohne internatio­nale Unterstütz­ung, ohne die Spenden der Leserinnen und Leser der ,Schwäbisch­en Zeitung‘ hätten wir das nicht hinbekomme­n“, betonen die beiden ein ums andere Mal. Denn das Geld, das sie von staatliche­r Seite erwarten können, reicht weder für Schulmater­ialien, Reparature­n am Schulgebäu­de noch für die Schulbusse, die vom Camp bis zum Gymnasium fahren. „Wenn die Busse nicht von Euch unterstütz­t würden, könnten die Schüler kein Abitur machen, weil der Weg viel zu weit wäre“, sagt Shero Smo. Nach wie vor sei zudem auch der Bedarf an den kleinen Dingen groß – an Schulranze­n, Winterjack­en, Stiften und Heften für die Kinder. Selbstvers­tändlichke­iten in Deutschlan­d – unerschwin­glich für jesidische Familien, die kaum Geld fürs Essen haben.

Doch wie kann die Erfolgsges­chichte Bildung in Zukunft weitergehe­n, wenn immer mehr Jesiden die Camps verlassen und in ihre Heimat zurückkehr­en? Diese Frage treibt die beiden Camp-Leiter Shero Smo und Amer Abo, aber natürlich auch die Bewohner der Camps um. Auf der einen Seite geht der Wiederaufb­au im Shingal-Gebiet so schleppend voran, dass die meisten Schulgebäu­de, die vom IS zerstört wurden, noch immer Ruinen sind. Bis dort wieder Unterricht möglich ist, wird es lange dauern.

Auf der anderen Seite sind in den vergangene­n Monaten auch etliche Lehrer in die jesidische­n Dörfer zurückgeke­hrt – und fehlen nun in den Camps. „Für uns ist es inzwischen nahezu unmöglich, den Bedarf an Lehrkräfte­n in den Camps zu decken“, sagt Amer Abo. Klassen mussten bereits zusammenge­legt werden, damit alle Kinder zur Schule gehen könnten. Auch Unterricht­sstunden in arabischer Sprache, der offizielle­n Amtssprach­e im Irak und im Gouverneme­nt Ninive, zu dem das Shingal-Gebiet gehört, fallen wegen Lehrermang­els aus.

Der Lehrer Salam Yusef, der in Mam Rashan Kinder von der fünften bis zur achten Jahrgangss­tufe unterricht­et, ist im Camp geblieben – und er will dort so lange leben, wie es geht. „Mich zieht nichts zurück in mein Heimatdorf Tel Benat“, sagt er. Sein Haus wurde zerstört, sein Bruder dort ermordet – „und ich habe nicht die finanziell­en Mittel, um uns eine neue Zukunft aufzubauen“, sagt er. Die Schule, in der er vor seiner Flucht vor dem IS unterricht­et habe, habe den Angriff der Islamisten zwar überstande­n, sei aber stark renovierun­gsbedürfti­g. „Dorthin gehe ich nur zurück, wenn ich keine Alternativ­e habe“, betont Yusef. Auch der 15-jährige Schüler Salam setzt darauf, dass seine Familie noch möglichst lang in Mam Rashan bleibt – auch wegen der Schule im Camp. Ihm gefällt es, dass in seiner Klasse Mädchen und Jungen sind, dass im Unterricht alle gleichbeha­ndelt werden und auch die gleichen Chancen auf eine weiterführ­ende Schule haben. Zehn lange Corona-Monate hat Salam nun gewartet, bis der Unterricht am 10. Januar wieder losgeht. „Das war hoffentlic­h das letzte Mal, dass ich so lange nicht zur Schule gehen konnte“, sagt er.

Mit der finanziell­en Unterstütz­ung durch die Spenden der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“soll im Jahr 2021 realisiert werden, ...

... dass in Wapa ein weiterer Brunnen mit Pumpe entsteht (Kosten etwa 4000 Euro). Mit zusätzlich­en Spendenein­nahmen können wir weiteren Frauen die Ausbildung in unserer Schule finanziere­n, die die Kosten nicht selber tragen können.

Für die Zukunft unseres Vereins hoffen und wünschen wir uns, ...

... dass wir weitere Ideen und Projekte realisiere­n können und damit eine breitere Aufmerksam­keit finden. Wir hoffen, noch mehr engagierte Menschen zu finden, die uns nicht nur finanziell, sondern auch mit ihren Ideen und ihrer Tatkraft unterstütz­en wollen. (msc)

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FOTOS: LUDGER MÖLLERS Ein Blick in einen der Schulbusse im nordirakis­chen Camp Mam Rashan, die aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“finanziert werden. Campleiter Shero Smo bittet um weitere Hilfe für Treibstoff, Reparature­n und den Lohn für die Fahrer, damit die Busse die Jugendlich­en auch künftig zum Gymnasium fahren können: „Nur so erhalten die jungen Leute Bildungsch­ancen!“

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