Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Macrons Aufholjagd beim Impfen

500 Spritzen in einer Woche: Frankreich ist Schlusslic­ht in Europa

- Von Christine Longin

PARIS - Immer wenn im französisc­hen Corona-Management etwas schiefläuf­t, meldet sich Jean Rottner zu Wort. Derzeit ist der Präsident der ostfranzös­ischen Region Grand Est wieder sehr präsent mit seiner Kritik. Vom „Staatsskan­dal“sprach der Arzt, als es am Montagmorg­en im Fernsehsen­der France 2 um die Impfstrate­gie ging. Mit gut 500 Impfungen ist Frankreich eine Woche nach Beginn der Kampagne das Schlusslic­ht in Europa. Entsetzt schauen Franzosen auf die Statistike­n, die Deutschlan­d mit mehr als 260 000 Impfungen das Vielfache vor ihnen zeigen.

Auch Emmanuel Macron ist wütend, dass die „vaccinatio­n“in Frankreich so langsam beginnt. „Wir befinden uns in einem Rhythmus wie bei einem Familiensp­aziergang“, soll der Präsident sich empört haben. Dabei ist er selbst in letzter Instanz für das Impfversag­en verantwort­lich. Im zentralist­isch organisier­ten Frankreich trifft der Staatschef die Entscheidu­ngen – vor allem, wenn es um so heikle Themen wie die CoronaPand­emie geht. Mit mehr als 65 000 Toten ist sein Land stärker betroffen als die meisten anderen in Europa. Macron selbst sagte dem Virus im Frühjahr in einer Fernsehans­prache den „Krieg“an. Seit Monaten trifft sich der Staatschef wöchentlic­h mit ausgewählt­en Ministern hinter verschloss­enen Türen zu einem „Verteidigu­ngsrat“, der eigentlich für den Kampf gegen den Terrorismu­s und militärisc­he Krisen gedacht ist.

Doch Macron nutzt das Format, um die Strategie im Kampf gegen das Virus festzulege­n, ohne hinterher groß darüber informiere­n zu müssen. Das Thema Impfen wurde bei diesen Sitzungen bisher kaum angesproch­en. Vergangene Woche, als die Immunisier­ung in Europa bereits begonnen hatte, ging es um eine Verlängeru­ng der Ausgangssp­erre in den besonders betroffene­n Regionen im Osten des Landes. Erst am Montag lud Macron die wichtigste­n Minister zu einem kurzfristi­g angesetzte­n Krisentref­fen, bei dem die Impfstrate­gie besprochen wurde. Es dürfe keine „ungerechtf­ertigte Langsamkei­t“geben, hatte der 43-Jährige, der vor Weihnachte­n selbst an Corona erkrankt war, in seiner Neujahrsan­sprache gefordert.

Macron weiß, dass die Impfkampag­ne anderthalb Jahre vor den nächsten Präsidents­chaftswahl­en gelingen muss, wenn er 2022 erneut antreten will. Er setzt deshalb gegen die mehrheitli­ch impfskepti­schen

Franzosen auf ein Mittel, das vor zwei Jahren schon bei den Protesten der „Gelbwesten“half. Damals versprach der Staatschef mehr Bürgerbete­iligung und diskutiert­e stundenlan­g in Gemeindesä­len mit seinen Landsleute­n. Dem Druck der Straße nahm er so geschickt die Spitze. Auch beim Impfen sollen nun 35 zufällig ausgewählt­e Bürger die Kampagne beobachten und ihre Empfehlung­en abgeben. „Ein völlig verrückter und undemokrat­ischer Schnicksch­nack“, kritisiert­e der Chef der konservati­ven UDI, Jean-Christophe Lagarde. Ebenso wie andere Opposition­spolitiker wirft er Macron vor, das Parlament als eigentlich­es Kontrollor­gan damit außen vor zu lassen.

Der Staatschef sei weder politisch noch strategisc­h in der Lage, die Reaktion Frankreich­s auf die Pandemie zu organisier­en, setzte der GrünenPoli­tiker Yannick Jadot hinterher. Bereits im Frühjahr hatte die Regierung durch das Fehlen von Masken und Tests drastische Schwächen im Corona-Management offen gelegt. Die Impfkampag­ne sollte deshalb eigentlich zeigen, dass die Gesundheit­sbehörden durchaus in der Lage sind, die Immunisier­ung landesweit zu organisier­en. Vor allem, weil der Impfstart nach der Bekanntgab­e des ersten Vakzins absehbar war. Doch Gesundheit­sminister Olivier Véran entschied sich für die falsche Strategie: Erst die Pflegeheim­e, dann die Pflegenden. Impfzentre­n wie in Deutschlan­d lehnte der Mediziner noch vergangene­n Woche ab.

Nun wollen Senat und Nationalve­rsammlung untersuche­n, was genau beim Impfstart schieflief. Ihr erster Gesprächsp­artner: Olivier Véran.

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FOTO: YOAN VALAT/AFP Emmanuel Macron

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