Macrons Aufholjagd beim Impfen
500 Spritzen in einer Woche: Frankreich ist Schlusslicht in Europa
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PARIS - Immer wenn im französischen Corona-Management etwas schiefläuft, meldet sich Jean Rottner zu Wort. Derzeit ist der Präsident der ostfranzösischen Region Grand Est wieder sehr präsent mit seiner Kritik. Vom „Staatsskandal“sprach der Arzt, als es am Montagmorgen im Fernsehsender France 2 um die Impfstrategie ging. Mit gut 500 Impfungen ist Frankreich eine Woche nach Beginn der Kampagne das Schlusslicht in Europa. Entsetzt schauen Franzosen auf die Statistiken, die Deutschland mit mehr als 260 000 Impfungen das Vielfache vor ihnen zeigen.
Auch Emmanuel Macron ist wütend, dass die „vaccination“in Frankreich so langsam beginnt. „Wir befinden uns in einem Rhythmus wie bei einem Familienspaziergang“, soll der Präsident sich empört haben. Dabei ist er selbst in letzter Instanz für das Impfversagen verantwortlich. Im zentralistisch organisierten Frankreich trifft der Staatschef die Entscheidungen – vor allem, wenn es um so heikle Themen wie die CoronaPandemie geht. Mit mehr als 65 000 Toten ist sein Land stärker betroffen als die meisten anderen in Europa. Macron selbst sagte dem Virus im Frühjahr in einer Fernsehansprache den „Krieg“an. Seit Monaten trifft sich der Staatschef wöchentlich mit ausgewählten Ministern hinter verschlossenen Türen zu einem „Verteidigungsrat“, der eigentlich für den Kampf gegen den Terrorismus und militärische Krisen gedacht ist.
Doch Macron nutzt das Format, um die Strategie im Kampf gegen das Virus festzulegen, ohne hinterher groß darüber informieren zu müssen. Das Thema Impfen wurde bei diesen Sitzungen bisher kaum angesprochen. Vergangene Woche, als die Immunisierung in Europa bereits begonnen hatte, ging es um eine Verlängerung der Ausgangssperre in den besonders betroffenen Regionen im Osten des Landes. Erst am Montag lud Macron die wichtigsten Minister zu einem kurzfristig angesetzten Krisentreffen, bei dem die Impfstrategie besprochen wurde. Es dürfe keine „ungerechtfertigte Langsamkeit“geben, hatte der 43-Jährige, der vor Weihnachten selbst an Corona erkrankt war, in seiner Neujahrsansprache gefordert.
Macron weiß, dass die Impfkampagne anderthalb Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen gelingen muss, wenn er 2022 erneut antreten will. Er setzt deshalb gegen die mehrheitlich impfskeptischen
Franzosen auf ein Mittel, das vor zwei Jahren schon bei den Protesten der „Gelbwesten“half. Damals versprach der Staatschef mehr Bürgerbeteiligung und diskutierte stundenlang in Gemeindesälen mit seinen Landsleuten. Dem Druck der Straße nahm er so geschickt die Spitze. Auch beim Impfen sollen nun 35 zufällig ausgewählte Bürger die Kampagne beobachten und ihre Empfehlungen abgeben. „Ein völlig verrückter und undemokratischer Schnickschnack“, kritisierte der Chef der konservativen UDI, Jean-Christophe Lagarde. Ebenso wie andere Oppositionspolitiker wirft er Macron vor, das Parlament als eigentliches Kontrollorgan damit außen vor zu lassen.
Der Staatschef sei weder politisch noch strategisch in der Lage, die Reaktion Frankreichs auf die Pandemie zu organisieren, setzte der GrünenPolitiker Yannick Jadot hinterher. Bereits im Frühjahr hatte die Regierung durch das Fehlen von Masken und Tests drastische Schwächen im Corona-Management offen gelegt. Die Impfkampagne sollte deshalb eigentlich zeigen, dass die Gesundheitsbehörden durchaus in der Lage sind, die Immunisierung landesweit zu organisieren. Vor allem, weil der Impfstart nach der Bekanntgabe des ersten Vakzins absehbar war. Doch Gesundheitsminister Olivier Véran entschied sich für die falsche Strategie: Erst die Pflegeheime, dann die Pflegenden. Impfzentren wie in Deutschland lehnte der Mediziner noch vergangenen Woche ab.
Nun wollen Senat und Nationalversammlung untersuchen, was genau beim Impfstart schieflief. Ihr erster Gesprächspartner: Olivier Véran.