Prediger und Provokateur
Vor 100 Jahren wurde der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt geboren
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FRANKFURT (epd) - Seine Theaterstücke sind Schullektüre und Bühnenklassiker. Krimis wie „Der Richter und sein Henker“und Dramen wie „Die Physiker“machten ihn bekannt: Am 5. Januar wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden, er starb vor 30 Jahren am 14. Dezember 1990 im schweizerischen Neuchâtel.
Weltruhm errang der Schriftsteller mit der Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“(1956). Die Titelheldin Claire Zachanassian will sich für frühes Unrecht rächen. Dürrenmatt zeigt, wie verführbar Menschen sind, wenn ihnen für einen Mord an einem Mitbürger nur genug Geld geboten wird. 1958 wurde das Stück in New York aufgeführt, später in Hollywood mit Ingrid Bergman verfilmt.
Auch wenn das Verhältnis zwischen Dürrenmatt und seinem Heimatland nicht ungetrübt war, plant die Schweiz zum 100. Geburtstag ihres großen Dichters zahlreiche Ausstellungen, Tagungen und Lesungen. 1990 hatte Dürrenmatt einen veritablen Skandal ausgelöst, als er den einst eingesperrten Schriftsteller und Dissidenten Václav Havel, der inzwischen Präsident der Tschechoslowakei war, im „Gefängnis Schweiz“begrüßte. Die Schweizer fühlten sich „frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität“, so Dürrenmatt. Die Politelite regte sich auf, Dürrenmatt wurde als Nestbeschmutzer gescholten.
Der Sohn eines reformierten Dorfpfarrers war stets ein Freund der Provokation. 1921 in Stalden/Konolfingen bei Bern geboren zog die Familie alsbald nach Bern. Schon als Schüler hat Dürrenmatt viel gemalt und gezeichnet. Doch anstatt Kunst studierte er Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften an den Universitäten Bern und Zürich. Ohne akademischen Abschluss beendete er 1946 sein Studium, heiratete im selben Jahr die Schauspielerin Lotti Geissler und zog mit ihr nach Basel. Er wollte schreiben.
Im Jahr darauf wurde Sohn Peter geboren und das Wiedertäufer-Drama „Es steht geschrieben“im Schauspielhaus Zürich als erstes Stück uraufgeführt. Sein tatsächlich erstes Stück „Untergang und neues Leben“wurde nie gespielt. Dürrenmatts Leben
war „eine bewegende Folge von Krisen und Auferstehungen“, schrieb einer seiner Biografen, Peter Rüedi, in der „Weltwoche“.
Als „größtes literarisches Erlebnis“nannte Dürrenmatt in seinem Essay „Theaterprobleme“den antiken Komödien-Autor Aristophanes: Er rücke die Geschehnisse der Gegenwart in die Distanz des Komischen, mit Einfällen, die unvermittelt wie ein „Geschoss“in die vermeintliche Ordnung einfielen. Eine Charakterisierung, die auch auf Dürrenmatts Werk passen könnte.
Theaterkritiker Georg Hensel charakterisierte den Autor einmal als „einen Moralisten wider Willen, der sich für einen Spieler hält“. Dazu ergänzt Ulrich Weber, Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses, im Gespräch: „Ja, ein Spiel im Sinne des Experiments.“Für Weber, der in diesem Jahr eine DürrenmattBiografie veröffentlichte, war der Autor „ein Frager mehr als ein Antwortgeber der Moral“. Seine Kriminalromane wie „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“und „Das Versprechen“stellten mit zunehmender Radikalität die konventionellen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Recht infrage.
Literaturkritiker Marcel ReichRanicki nannte ihn einen „Prediger mit Dynamit in den Taschen“: „In Dürrenmatts Werken steckt etwas Raubtierhaftes, eine drohende und gefährliche, eine unberechenbare Kraft. Er lässt sich nicht domestizieren. Er ist ein Schriftsteller, der auf der Lauer liegt.“
Unter anderem „Die Physiker“machen das Abgründige bei Dürrenmatt sichtbar: Ein Stück über drei Naturwissenschaftler, die sich psychisch krank stellen und lieber in der Psychiatrie bleiben, als mit ihren Entdeckungen die Welt in den Abgrund zu stürzen. Es wurde 1962, im
Jahr der Kubakrise, in Zürich uraufgeführt.
Ab 1967 widmete sich der Autor der praktischen Theaterarbeit, unter anderem als künstlerischer Berater von Intendant Harry Buckwitz am Schauspielhaus Zürich. „An seinem 65. Geburtstag, 1986, gab es von ihm 30 Bände gesammelter Werke und darin 26 Theaterstücke“, bilanzierte Georg Hensel. Sie wurden in 40 Sprachen übersetzt. Im selben Jahr erhielt Dürrenmatt den renommierten Büchner-Preis. Er reiste viel, etwa 1987 zu einer Friedenskonferenz nach Moskau, hielt Vorträge zur aktuellen Politik.
Nach dem Tod seiner Frau Lotti 1983 hatte er die Schauspielerin Charlotte Kerr geheiratet. Gemeinsam drehten sie den Film „Porträt eines Planeten“. In ihrem Buch „Die Frau im roten Mantel“erinnert sich Kerr an die gemeinsamen Jahre.
Der von Ulrich Weber betreute literarische Nachlass Dürrenmatts liegt heute im Schweizerischen Literaturarchiv Bern. In Neuchâtel wurde im Jahr 2000 das „Centre Dürrenmatt“als eine Institution der Schweizerischen Nationalbibliothek für die Präsentation von Dürrenmatts bildnerischem Schaffen eröffnet. Dort soll vom 24. Januar bis 2. Mai 2021 die Ausstellung „Friedrich Dürrenmatt und die Schweiz – Fiktionen und Metaphern“zu sehen sein. Noch gebe es keine Absage wegen Corona, heißt es. Und bei Diogenes erscheint anlässlich des 100. Geburtstags eine revidierte Werkausgabe in 37 Bänden und das „Stoffe-Projekt“mit teils unveröffentlichten Texten und Fragmenten des Spätwerks.
„In Dürrenmatts Werken steckt etwas Raubtierhaftes, eine drohende und gefährliche, eine unberechenbare Kraft. Er lässt sich nicht domestizieren. Er ist ein Schriftsteller, der auf der Lauer liegt.“Von Marcel Reich-Ranicki
Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie, Diogenes
2020. 28 Euro