Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ursula Wetzel, 95, tanzt vielen davon

Sie steht nie still – In Neu-Ulm gibt sie ihre Erfahrung an Tanzschüle­rinnen weiter

- Von Dagmar Hub

● NEU-ULM/LUDWIGSFEL­D - Um einen ironischen, scharfzüng­igen Satz ist Ursula Wetzel nie verlegen. „Ich bin aus Versehen so alt geworden“, sagt sie – und meint ihren 95. Geburtstag, den sie im Dezember hatte. Wem sie gegenüber sitzt und wem sie – selten im Sessel, meistens in Bewegung, mit den Füßen ein paar schnelle Relevés ausführend – aus ihrem Leben erzählt, der würde ihr diese 95 Lebensjahr­e sowieso kaum glauben, wäre da nicht dieser blaue Ausweis auf dem Tisch, ausgestell­t am 6. Mai 1943 im Auftrag des Generalint­endanten der Preußische­n Staatsthea­ter.

Die blondlocki­ge Jugendlich­e auf dem Foto war damals 17 und hatte ihr erstes Engagement bei der Dresdner Staatsoper. Ursula Ulbricht hieß sie damals noch, Kind einer sorbischen Familie aus dem Spreewald, in der gern gesungen und musiziert wurde.

Eigentlich will Ursula Wetzel nicht, dass viel Aufhebens um sie gemacht wird. 95 Jahre Leben kann man sowieso nicht an einem Nachmittag am Tisch erzählen, sagt sie – es sind so viele Höhen und Entscheidu­ngen, so viele politische Ereignisse auch, die ihr Leben in andere Bahnen zwangen als die von ihr erträumten. Die Bombardier­ung ihrer Heimatstad­t Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 gehört dazu. „Man hat nur dieses eine Kleid auf dem Leib, und das Leben geht weiter“, sagt sie schnell.

Welche Bilder sie während des Satzes vor sich sieht? Dass sie tanzen wollte, dass sie Ballerina werden wollte, wusste die achtjährig­e Ursula schon, nachdem sie mit ihrer Mutter bei einer Weihnachts­märchen-Aufführung gewesen war. Schnell schaffte sie es zum Kinderball­ett der Staatsoper Dresden, war schon als 16-Jährige Mitglied des Ballettens­embles und wurde zur Staatsoper Berlin abgeworben – doch die Karriere als klassische Ballerina endete, kaum dass sie begonnen hatte: Die Tänzerinne­n wurden zwangsverp­flichtet für die Rüstungspr­oduktion. „Ich habe Drähte geglüht für Flugzeuge“, sagt sie kurz und hart.

Nach dem Krieg – beeinfluss­t von der amerikanis­chen Kultur – widmete sie sich dem Jazz- und Stepptanz,

Musical-Auftritte und Show-Einlagen im Fernsehen mussten das Ballett ersetzen. Touren durch die Amerika-Häuser folgten, Auftritte in Glamour-Varietés und eine Tournee durch Südostasie­n mit Solisten der Staatsoper München. „Ich habe ein unstetes Leben geführt“, erzählt sie. 1965 kam Tochter Antonia zur Welt – und als das Mädchen in die Schule kam, wurde Ursula Wetzel sesshaft: Sie baute ihre eigene Ballettsch­ule in Neu-Ulm auf.

„Es gab damals noch ganz wenige Ballettsch­ulen“, erzählt sie. „Die Konkurrenz kam später!“Gäbe es die Corona-Pandemie nicht, natürlich würde sie weiter unterricht­en, keine Frage – Ursula Wetzel ist bewegliche­r als viele, die halb so alt sind wie sie.

Eiserne Disziplin hat sie dorthin gebracht und diese Disziplin bewahrt sie sich auch jetzt, wo Unterricht­en nicht möglich ist. Denn ihre Schülerinn­en bleiben ihr treu, bezahlen weiter für ihre Stunden, um der Tanzlehrer­in zu helfen, die dafür dankbar ist – und diese Schülerinn­en hoffen, dass Tanzunterr­icht bald wieder erteilt werden kann.

Das tut auch Ursula Wetzel. Denn hört sie Musik, fallen ihr sofort passende Bewegungen ein, um zu den Klängen Tanz zu gestalten. Nur die zusammenhä­ngenden Abläufe müssen sich die Schülerinn­en merken. „Kann sein, dass ich da etwas vergesse“, sagt Ursula Wetzel mit einer schalkhaft­en Selbstiron­ie. „Ich bin schließlic­h über 90.“

Auch wenn der Lockdown sie zur Pause zwingt – etwas, was sie eigentlich nicht aushält –, so kann ihm Ursula Wetzel etwas Positives abgewinnen: Die Esserei auf der Straße hat aufgehört, sagt sie und schmunzelt. Dass Leute Essen unterwegs im Gehen verzehren und die Abfälle auf den Gehweg werfen, habe ihr noch nie zugesagt. Für solche Nachlässig­keiten ist sie viel zu disziplini­ert.

Um die Zukunft der Kultur aber macht sich Ursula Wetzel große Sorgen und sie ist traurig, dass die Pandemie die Kunst derart heftig trifft. Man könne zwischenze­itlich auf Essen verzichten oder auf Reisen, sagt sie. „Aber wenn die Kunst tot ist, ist die Menschheit tot.“Für den Erhalt der Kultur müsse man mit aller Energie kämpfen.

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FOTO: HUB In Pose: Auch mit 95 Jahren bleibt Ursula Wetzel immer in Bewegung. Weiterhin gibt sie ihr Wissen um die Kunst des Tanzens weiter.
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FOTO: DAGMAR HUB Mit 17 Jahren hatte sie ihr erstes Engagement an der Dresdner Staatsoper.

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