Der vergessene Kulturauftrag
Die Rolle der Fernsehsender als Türsteher und Großinquisitoren
● er Kern allen Übels ist die Quote“, sagt Andreas Schreitmüller – und man kann dem Mann nicht einmal vorwerfen, dass er sich zu lange Zeit gelassen hätte, bis er diese Erkenntnis auch öffentlich äußert. Schreitmüller hat das schon immer gesagt, auch öffentlich. Eher schon muss man zugeben, dass der Mann leicht reden hat. Denn Schreitmüller ist seit 1991 Filmchef bei Arte, und wenn es bei einem Sender nicht auf Quote ankommt, dann beim deutsch-französischen Kulturkanal. Zum 1. Januar ist Schreitmüller, der aus Rottweil stammt, und als Schüler im dortigen Stadtjugendring seine Filmleidenschaft entdeckte, jetzt in Ruhestand gegangen. Durchaus bereitwillig hat er sich schon immer in Interviews und Texten zum Stand der Dinge und zum grassierenden Qualitätsverlust geäußert. Doch zugleich hat er sich doch nie ernsthaft gegen das System gestellt, sondern er hat es verkörpert, jedenfalls seine bessere Hälfte. Schließlich war Schreitmüller bis vor zwei Wochen fast 30 Jahre einer der mächtigsten Menschen im deutschen und europäischen Film, und konnte in seiner Position über Schicksale von Stoffen und Karrieren von Regisseuren und Produzenten entscheiden.
Aber wie ist das eigentlich möglich? Wie kann ein Medium das Schicksal eines anderen entscheidend mitbestimmen? Um diese Frage zu beantworten und die Rolle des Fernsehens im deutschen Film – ein Sonderfall in ganz Europa – zu erklären, muss man zunächst beschreiben, was Fernsehen überhaupt ist.
Das Fernsehen ist nämlich ein doppelter Zwitter. Einerseits ist es eine Ausstrahlungsplattform zur Zweitverwertung von Filmen, die eigentlich auf die große Leinwand des Kinos gehören. Dafür kauft das Fernsehen die Senderechte für fertige Filme, oft mit einer Höchstzahl möglicher Ausstrahlungen und dem Recht, sie in der Mediathek zu zeigen (je nach Vertrag mindestens ein paar Tage und höchstens drei Monate, um andere Verdienstchancen nicht zu schmälern). Es platziert die Filme dann auf Spielfilmsendeplätzen.
Zugleich ist das Fernsehen nicht nur Käufer, sondern auch kreativer Gestalter: Es produziert nur fürs Fernsehen gedachte Spielfilme, die sogenannten Fernsehfilme oder Fernsehspiele. Gerade in den Anfangsjahren des deutschen Fernsehens war dies oft ungemein avantgardistisch. Kaum vorstellbar sind jene Zeiten, in denen zum Beispiel das „Kleine Fernsehspiel“des ZDF am Donnerstag um 19.30 Uhr, direkt nach den „Heute“-Nachrichten gesendet
Dwurde. Man zeigte dann zum Beispiel Filme von Werner Schroeter oder von Rainer Werner Fassbinder. Die Sender treten aber auch als Co-Produzenten von Kinofilmen auf. De facto müssen sie das sogar, weil oft für die Bewilligung eines Filmförderentscheids durch die Förderinstitution die Beteiligung eines Fernsehsenders Voraussetzung ist. In der Praxis hat das zur Folge, dass die Sender automatisch in die Rolle von Türstehern schlüpfen, deren Zustimmung darüber entscheidet, ob ein Film gemacht wird – ein Kinofilm wohlgemerkt. Also ein Werk, das sich international durchsetzen soll und auf der großen Leinwand funktionieren muss.
Gerade diese Verquickung wird im deutschen Filmgeschäfts am meisten kritisiert. Denn das Kriterium, nach dem sich Sender für eine Koproduktion entscheiden, ist die Quote: Das Fernsehen will ein Massenprodukt, das im Idealfall Millionen vor dem Bildschirm fesselt, nicht etwa Avantgarde oder künstlerische Innovation, die vielleicht in Cannes oder bei den Oscars Preischancen hat. Ein Fernsehfilm muss zwischen Kühlschrank und Bügelbrett funktionieren; ein Kinofilm kann sich mehr Zeit lassen, verträgt die Ruhe und die Konzentration des dunklen Saals, in dem die Zuschauer den Film weder anhalten noch aufzeichnen können.
Weil kaum ein deutscher Kinofilm überhaupt ohne solche Fernsehbeteiligung entstehen kann, rücken die Redakteure der öffentlich-rechtlichen deutschen Sender mehr und mehr in die Rolle von richtigen Produzenten. Obwohl sie meist nur einen Bruchteil der Produktionskosten übernehmen (meist unter 20 Prozent des Gesamtbudgets), obwohl sie über diese Etats einen Teil ihrer Fixkosten abrechnen (das Geld also gar nicht in die Filmproduktion als solche fließt), und obwohl sie sich dieses Geld von den steuerfinanzierten Filmförderinstitutionen wieder zurückholen, reden sie entscheidend mit.
Fernsehredaktionen fordern oft ein Vetorecht für oder gegen die Besetzung bestimmter Schauspieler, sie reden bereits in den Entwicklungsphasen der Drehbücher gestaltend mit. Mögen sie damit einzelne Werke besser machen, so führt all das doch insgesamt zu einem Mainstreaming deutscher Filme. Wo mehr Abwechslung, Diversität und innovative Ästhetiken theoretisch gewünscht sind, tritt in der Praxis graues Einerlei. Fernsehvertreter werden so zu inhaltlichen Großinquisitoren des Kinos, die über „Tauglichkeit“und „Publikumswirksamkeit“von Stoffen und Ästhetiken entscheiden.
Auch vom vielbeschworenen „Bildungsauftrag“bleibt wenig übrig. Obwohl alle gern die zunehmende Unbildung beklagen, will sich keiner zur Hochkultur bekennen oder gar zu einer Publikumserziehung.
Über die Jahrzehnte führt dieses Nebeneinander ungleicher Medien dazu, dass sich das schwächere – das Kino – immer mehr dem stärkeren, also dem Fernsehen anpassen muss. Die Fernsehästhetik einer gleichmäßigen Montage aus halbnahen Bildern, einer Erzählweise, in der das Bild immer das zeigt, wovon gerade in den Dialogen auch gesprochen wird, und in der die Filmmusik die Gefühle noch verstärkt, die sowieso schon durch Handlung und Dialoge hervorgerufen wurden, dominiert auch das deutsche Kino. Verallgemeinert gesagt: Eine Ästhetik der Sicherheit ersetzt die Ästhetik der Verunsicherung und Irritation, des „Chocs“, die seit den Brüdern Lumière, den Pionieren Mélliès und Griffith und den Surrealisten dem Kino eigen ist.
Hinzu kommt neuer finanzieller Druck. In den sich rasant wandelnden
Die Rolle der Fernsehsender
Medienlandschaften der Gegenwart wuchern die Spartenkanäle. Aus einem Hauptsender werden drei, vier Abspielflächen; dritte Programme, Arte, 3sat und Phoenix kommen dazu. Die wollen bestückt werden. So brauchen die Sender immer mehr Inhalte. Zugleich haben sie nicht mehr Geld, der Finanzanteil fürs Programm schrumpft sogar konstant – nicht zuletzt zugunsten der üppigen Betriebsrenten und der Programmreformen, die vor allem das Ziel haben, „Sparpotenziale auszureizen“, sprich: Mit neuer Begründung weiter zu kürzen.
Darum wollen die Sender immer weniger Spiel- und Dokumentarfilme, obwohl sie zu deren Ausstrahlung im Programmauftrag verpflichtet sind. Das ZDF hat den Dokumentarfilm komplett abgeschafft. Der Sender bevorzugt billige, leichter kosumierbare Häppchenware von 25, 45 oder 52-Minuten, die im Ausland oft unverkäuflich sind, im Inland nicht finanzierbar.
Auch Andreas Schreitmüller beklagte erst kürzlich das „Verschwinden der Internationalität“und die Fixierung auf eine „eurozentrische oder angelsächsische Perspektive. Das Flair, die Farben, die Erzählweisen aus anderen Ländern – das kommt kaum mehr vor oder zu ganz später Stunde“.
Der Ausweg für die Produzenten sind oft „Amphibienfilme“, also zwei oder drei Schnitt-Versionen des gleiche Films. Billig sind für die Sender auch Studentenfilme – der Nachwuchs darf nichts verdienen, die Produktion bezahlt die Schule, und die Rechtslage ermöglicht, dass Filme Dutzende Male wiederholt werden dürfen, ohne dass man Tantiemen zahlen muss.
Zum neuen Player sind jetzt die Streamingdienste geworden. Anbieter wie Netflix, Amazon, Sky, aber auch europäische Antworten wie Mubi und Leonine verändern die Landschaft. Diese neuen Akteure mischen die Qualität von traditionellen Fernsehsendern mit denen eines globalen Produktionskonzerns und den neuen Gewohnheiten jüngerer Zuschauer. Die Mediatheken der ÖffentlichRechtlichen antworten darauf und bieten „nicht-lineare“Programme.
Ungeklärt aber ist hier nicht nur die Frage der Bezahlung. Die neue Konkurrenz führt zwar dazu, dass die Öffentlich-Rechtlichen ihr Monopol als „Fürsten“des deutschen Kinos verlieren und auch gewagtere, interessantere Erzählweisen möglich sind. Im Idealfall können Filmemacher zwischen mehreren finanziellen Angeboten wählen. Tatsächlich aber verlangen die amerikanischen Plattformen globale Auswertungsrechte. Damit gibt es nicht mehr Geld, man bekommt es nur schneller. Druck und Ausbeutung der Kreativen verlagern sich nur.