Eine Poetin begeistert Amerika
Amanda Gorman nennt ihre Heimat bei Joe Bidens Amtseinführung eine unvollendete Nation
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WASHINGTON - Mit einem Gedicht trat sie in die Weltöffentlichkeit: Amanda Gorman. Ihren Text „The Hill We Climb“, „Der Hügel, auf den wir klettern“, trug sie am Mittwoch vor dem Kapitol in Washington vor, bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden.
Mit dem Gedicht beeindruckte sie so sehr, dass das Lob nur so prasselte. Etwa von Ex-Präsident Barack Obama und Showmasterin Oprah Winfrey. Amanda Gorman sprach von der Demokratie, deren Vorankommen phasenweise verzögert, die aber niemals besiegt werden könne. Vom Sturm auf das Parlamentsgebäude, dem Symbol für eine Kraft, „die unsere Nation zerstören wollte, anstatt sie miteinander zu teilen“.
Von einer Nation, die nicht gebrochen, sondern einfach nur unvollendet sei. Und davon, dass sie, „ein dürres schwarzes Mädchen“, Nachfahrin von Sklaven, aufgewachsen bei einer alleinerziehenden Mutter, davon träumen könne, Präsidentin zu werden – um dann für einen Präsidenten ein Gedicht aufzusagen. Dazu machte sie Handbewegungen, die an den Film „The King’s Speech“denken ließen. An den britischen König George VI., dem der Sprachlehrer Lionel Logue mit fließenden Gesten den Rhythmus vorgibt, auf dass er nicht stottere.
Auch über Gorman heißt es, dass sie in ihrer Kindheit beim Reden häufig ins Stocken geriet. Weil auch Joe Biden in jungen Jahren gegen das Stottern anzukämpfen hatte, strickten amerikanische Boulevardblätter daraus die Geschichte, dass er sie vor allem deshalb auf seiner Inaugurationsfeier reden lassen wollte. Die 22Jährige hat das weder bestätigt noch dementiert. Ja, sie habe vor der Zeremonie mit Biden gesprochen, aber nicht übers Stottern, ließ sie wissen. Tatsächlich war es wohl Jill Biden, First Lady und Englischlehrerin, die Gorman bei einem Auftritt in der Kongressbibliothek in Washington erlebt hatte, und Organisatoren der Zeremonie nahelegte, auch an Amanda Gorman zu denken.
Es ist fünf Jahre her, da gründete die damalige Schülerin eine Organisation namens „One Pen One Page“, die es, so formulierte sie es, jungen Geschichtenerzählern ermöglichen sollte, die Welt zu verändern. Bereits zuvor war ein erster Band mit Gedichten aus ihrer Feder erschienen, „The One For Whom Food Is Not Enough“. Inspiriert von Malala Yousafzai, der mit dem Nobelpreis geehrten Aktivistin aus Pakistan, wurde sie Jugenddelegierte bei den Vereinten Nationen. Später studierte sie an der Universität Harvard Soziologie. Am Mittwoch dann war sie die jüngste Poetin, die nach der Rede eines frisch vereidigten Präsidenten rezitieren durfte. Zu denen, die vor ihr an der Westseite des Kapitols auf der Bühne standen, gehört Maya Angelou, die große schwarze Schriftstellerin, die 1993 Bill Clintons Amtseinführung lyrisch begleitete.
Sie habe, so die Frau aus Los Angeles, beim Schreiben ihres Gedichts immer daran gedacht, dass sie kein
Bild zeichne, dass Unbequemes übertünche. Dass unbequeme Wahrheiten, denen man sich stellen müsse, nicht wegradiert oder an den Rand gedrängt würden. Wie sich zum Beispiel das Alltagsleben heranwachsender Amerikaner mit dunkler Haut noch immer unterscheidet von dem ihrer weißen Altersgenossen, hat Amanda Gorman erst vor wenigen Tagen einem Reporter der „Washington Post“erklärt. Was ihre erste Erfahrung mit Politik gewesen sei, wurde sie gefragt. „Nichts, was mit Protesten oder etwas von der Art zu tun hätte“, erwiderte sie. „Aber vielleicht das: Als ich wirklich noch sehr jung war, las mir meine Mutter meine Miranda-Rechte vor.“
Nach den Miranda-Regeln müssen Festgenommene bei Polizeiverhören auf ihr Recht hingewiesen werden, sowohl einen Anwalt heranziehen als auch schweigen zu können. Im amerikanischen Sprachgebrauch steht der Begriff generell für den Umgang mit Polizisten. Wenn man als schwarzes Kind in Amerika heranwachse, komme man irgendwann an den Punkt, „an dem unsere Eltern das mit uns führen, was sie ‚das Gespräch‘ nennen“, erklärte Gorman dem Reporter. „Allerdings geht es dabei nicht um Vögel oder Bienen oder darum, wie sich unsere Körper verändern. Es geht um die potenzielle Zerstörung unserer Körper.“Ihre Mutter, fügte die Dichterin hinzu, habe sichergehen wollen, dass sie wisse, was es bedeute, mit dunkler Haut aufzuwachsen. Vielleicht sei dies ihre erste Erfahrung mit dem politischen Klima des Landes gewesen.