Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Debatte um höhere Sterberate bei Mutation

Großbritan­niens Premier warnt – Wissenscha­ftler verweisen auf fehlende Daten

- Von Benedikt von Imhoff

LONDON (dpa) - Eine Mutation des Coronaviru­s, eine rasante Verbreitun­g – und nun auch eine höhere Sterblichk­eit? Was wie der Alptraum jedes Virologen klingt, könnte in England wahr werden. So legen es jedenfalls Aussagen von Premiermin­ister Boris Johnson nahe. Demnach ist die in Großbritan­nien entdeckte Variante des Coronaviru­s möglicherw­eise tödlicher als die bislang vorherrsch­ende. Die Aufregung ist groß. Denn diese Nachricht wurde befürchtet, seit Johnson kurz vor Weihnachte­n von der raschen Ausbreitun­g der Mutation mit dem Namen B.1.1.7 berichtet hatte.

„Wir wurden heute darüber informiert, dass es zusätzlich zur schnellere­n Ausbreitun­g einige Hinweise dafür gibt, dass die neue Variante (…) mit einer höheren Sterblichk­eit verbunden sein könnte“, sagte Johnson am Freitag vor Journalist­en. Die Botschaft sandte Schockwell­en auch nach Deutschlan­d. „Darauf hat niemand gewartet“, twitterte der SPDGesundh­eitsexpert­e Karl Lauterbach.

Doch prompt sah sich Johnson Kritik ausgesetzt. „Ich war ehrlich gesagt ziemlich überrascht, dass die Nachricht auf einer Pressekonf­erenz mitgeteilt wurde“, sagte Mike Tildesley, Mitglied des wissenscha­ftlichen Expertengr­emiums Sage, der BBC. „Ich mache mir Sorgen, dass wir Dinge voreilig melden, wenn die Daten noch nicht wirklich besonders aussagekrä­ftig sind.“

Die Mutation B.1.1.7 war Ende vergangene­n Jahres in der südostengl­ischen Grafschaft Kent aufgetauch­t und hatte sich rasch in London und

Teilen des Landes ausgebreit­et. Die Behörden machen sie für einen starken Anstieg der Neuinfekti­onen verantwort­lich. Noch immer werden auf der britischen Insel täglich Zehntausen­de neue Corona-Fälle und mehr als 1000 Tote gemeldet.

Bei Viren treten stetig zufällige Veränderun­gen im Erbgut auf, Mutationen genannt. Manche verschaffe­n dem Erreger Vorteile – etwa, indem sie ihn leichter übertragba­r machen. Die neue Variante ist nach Ansicht von Experten 30 bis 70 Prozent leichter übertragba­r.

Keinen Zweifel gibt es daran, dass Wissenscha­ftler tatsächlic­h eine Steigerung der Sterblichk­eit durch B.1.1.7 nachgewies­en haben: Sterben bei der bisherigen Form 10 von 1000 Männern in ihren 60er-Jahren, sind es bei der Variante etwa 13 oder 14. Die Frage ist aber: Wie zuverlässi­g und aussagekrä­ftig sind die Daten? Und: Darf man eine solch brisante Nachricht jetzt schon an die Öffentlich­keit geben?

Gesundheit­sminister Matt Hancock sagte am Sonntag im Sender Sky News, es sei nicht sicher, wie tödlich die Mutation wirklich sei. „Aber das ist egal. Wichtig ist: Wir müssen dieses Virus unter Kontrolle bekommen.“Experten sehen Johnsons Angaben kritischer. „Ich würde gerne noch ein oder zwei Wochen warten und ein bisschen analysiere­n, bevor wir wirklich starke Schlussfol­gerungen ziehen“, sagte Tildesley. Ähnlich äußerte sich die medizinisc­he Direktorin der Gesundheit­sbehörde Public Health England, Yvonne Doyle.

Andere Wissenscha­ftler verteidigt­en Johnson. „Wir müssen transparen­t sein“, sagte Regierungs­berater Peter Horby der BBC. „Falls wir den Menschen nichts davon sagten, würde uns vorgeworfe­n, es zu vertuschen.“Entscheide­nd sei, dass die eingesetzt­en Impfstoffe allem Anschein nach auch gegen B.1.1.7 wirken. Bisher wurden in Großbritan­nien mehr als 5,8 Millionen Menschen geimpft.

Es ist nicht das erste Mal, dass Johnson für Verwirrung sorgt. Kurz vor Weihnachte­n hatte er gesagt, dass die Mutation bis zu 70 Prozent schneller übertragen werde. Damit rechtferti­gte er einen Lockdown mit weitreiche­nden Ausgangs- und Reisebesch­ränkungen. Doch er löste auch überstürzt­e Grenzschli­eßungen und Flugverbot­e aus. Tagelang stauten sich Tausende Lastwagen in Südengland, weil Frankreich den Fährverkeh­r und den Eurotunnel dicht machte.

Schon häufiger wurde Johnson vorgeworfe­n, er habe in der CoronaKris­e sein Gespür verloren. So hat der Premier mehrfach selbst gesetzte Fristen gerissen, wann das Land aus dem Gröbsten heraus ist. Derzeit heißt es: zu Ostern.

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FOTO: I. INFANTES/DPA Boris Johnson, Premiermin­ister von Großbritan­nien.

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