Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Aufstand gegen Online-Dienst TikTok

Nach dem Tod einer Zehnjährig­en fordert Italien den Konzern zu Alterskont­rollen auf

- Von Petra Kaminsky

PALERMO (dpa) - Der Tod der zehnjährig­en Antonella – vermutlich bei einer Internet-Mutprobe – hat in Italien einen Proteststu­rm ausgelöst. Doch dieser zieht schon seit einiger Zeit auf: Die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktspe­rren lässt die Angst vieler vor dem Abdriften der Kinder in Soziale Netzwerke wie TikTok wachsen. Das Mädchen aus Palermo hatte sich zu Hause mit einem Gürtel erstickt. Der Verdacht: Antonella wollte bei einer Challenge im Netzwerk der Kurzvideo-App mitmachen. Italiens Datenschut­zbehörde Garante nahm TikTok am Wochenende wiederholt mit Drohungen ins Visier.

Der Datenschut­zbeauftrag­te Guido Scorza sprach von möglichen Millionen-Bußen gegen TikTok, wenn das Unternehme­n das Alter der Nutzer nicht besser kontrollie­re. Die Behörde habe der Plattform, die aus China kommt und Jugendlich­e rund um den Globus begeistert, ein Ultimatum bis 15. Februar für eine endgültige Lösung gestellt. Am Freitag hatten die Aufpasser die sofortige Sperrung aller TikTok-Konten verlangt, bei denen das Alter der Nutzer nicht „mit Sicherheit“feststeht.

TikTok erklärte, man prüfe den Vorgang. Sicherheit habe „oberste Priorität“, zitierten Medien das Unternehme­n. Zugleich hieß es, die Plattform habe keine Aufforderu­ngen zu den Mutproben („Challenges“) bei sich gefunden, die im Fall Antonellas eine Rolle spielen sollen.

Das Mädchen aus Sizilien hatte vergangene Woche an einer „Blackout Challenge“oder „Hanging Challenge“mitmachen wollen. Das habe eine Schwester erzählt. Dabei strangulie­ren sich Teilnehmer, filmen das und laden die Bilder mit dem Smartphone hoch. Die Ermittlung­en der Polizei, die auch die Handydaten prüfen wollte, liefen noch.

Zur Möglichkei­t, dass der Anstoß zu dem tödlichen Vorfall aus anderen Sozialen Netzwerken stammen könnte, sagte Datenschüt­zer Scorza: „Bei TikTok ist bereits ein anderes Verfahren wegen mangelnder Beachtung des Schutzes und der Privatsphä­re von Minderjähr­igen anhängig.“Es ging am 22. Dezember an die Betreiber. Italiens Datenschüt­zer wiesen die Betreiber darauf hin, dass unter 14-Jährige das Okay der Eltern für die Netzwerke brauchten. TikTok schreibt ein Mindestalt­er von 13 Jahren vor.

Fachleute stritten am Wochenende, wie und ob die Alterskont­rollen überhaupt funktionie­ren sollen. Viele Kinder machen sich bei der Anmeldung älter. Einige Experten argumentie­rten, die Anbieter könnten am Verhalten der Nutzer das Alter ermitteln – wenn sie es wollten.

Parallel zur Debatte um TikTok kam ein Karussell von Schuldzuwe­isen und Erklärungs­versuchen in Gang. Wer ist verantwort­lich? Eltern? Das soziale Umfeld? Der Gesetzgebe­r? Lehrerin Loredana Saieva erzählte, sie habe der Klasse Antonellas erklärt, dass „die Technologi­e, die wir seit fast einem Jahr so oft für Fernunterr­icht verwenden, nur dann gut ist, wenn sie mithilfe von Erwachsene­n zum Lernen verwendet wird.“Leider dürfen die Kinder sich wegen Corona nicht umarmen, sagte sie der Zeitung „La Repubblica“. „Wir haben zusammen geweint.“

Der Vater der Toten sagte, seine Tochter habe die Welt von TikTok, YouTube & Co. geliebt. Er habe ihr vertraut, und sie habe davon erzählt. „Meine Tochter liebte es zu tanzen und zu singen. Sie war auf der Suche nach Likes und Followern, und ich hätte nie gedacht, dass sie so ein Spiel mitmachen würde.“

Der Jugendpsyc­hiater Stefano Vicari aus Rom mahnte, dass es gute Gründe gebe, dass Kinder unter zwölf Handys nicht alleine nutzen sollten. Netzwerke für sich genommen seien aber nicht an Aggression­en gegen den eigenen Körper Schuld.

„TikTok wird in Italien nach meinen Analysen jeden Monat von etwa zehn Millionen Menschen verwendet. Es ist ein Ausdrucksm­ittel besonders für die Jüngsten“, erläuterte der Social-Media-Experte Vincenzo Cosenza. „Die TikTok-Videokamer­a repräsenti­ert so etwas wie den Spiegel ihres Zimmers, einen Bildschirm, um sich auszudrück­en und mit der Welt in Austausch zu kommen.“

Das Unternehme­n suche mit digitalen Methoden und mit Menschen nach gefährlich­en Inhalten. Aber man finde nicht alles. Auch wenn der Zusammenha­ng zwischen dem Tod des Kindes und TikTok erst noch nachzuweis­en sei: „Social Media ist leicht zu beschuldig­en“, urteilte er. Cosenza mahnte, „das Problem ohne Alarmismus“anzugehen. „Die Technologi­eunternehm­en müssen sich bemühen, aber die Schulung zum richtigen Umgang mit dem Netz muss in der Familie beginnen.“

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