Krisenmanagerin im Kreuzfeuer
Als wäre Corona nicht genug, setzt eine Pannenserie Ursula von der Leyen zu
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BRÜSSEL - In Brüssel überschlagen sich die Ereignisse, seit letzte Woche bekannt wurde, dass Astra-Zeneca von der EU reservierten und bezahlten Impfstoff unter fadenscheinigen Vorwänden an andere Kunden geliefert hat. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) bemüht sich um Schadensbegrenzung und kämpft dabei an mehreren Fronten. Denn zusätzlich zur Impfkrise und einer folgenschweren Informationspanne bei der Veröffentlichung des Vertragstextes mit dem britischschwedischen Pharmakonzern hat sich die Chefin nun auch noch eine handfeste Irlandkrise eingehandelt.
Fast 900 Not- und Krisenentscheidungen habe sie bisher in ihrer kurzen Amtszeit treffen müssen, rechtfertigte sich von der Leyen am Montag im Interview mit mehreren großen europäischen Zeitungen. Bereits Sonntagabend hatte sie via „Heute-Journal“dem deutschen Publikum erklärt, 18 Millionen Impfdosen für 370 Millionen erwachsene Europäer seien doch gar keine so schlechte Bilanz für den Anfang. In einem Brief warnte sie zudem die Hauptstädte davor, sich nun auf eigene Faust um mehr Nachschub zu bemühen. Astra-Zeneca-Chef Pascal Soriot habe ihr in einem „sehr guten Gespräch“zugesichert, die Produktion im Februar und März deutlich zu steigern. Insgesamt könne die EU im ersten Quartal mit 100 Millionen Dosen rechnen, im zweiten Quartal seien es 300 Millionen Dosen – und hier sei nur die Produktion der drei bislang zugelassenen Hersteller eingerechnet. Komme das Vakzin von Johnson & Johnson hinzu, das mit einer einzigen Impfdosis auskommt, sehe die Bilanz noch deutlich besser aus.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo von der Leyen zum Takt der zahmen Fragen von Klaus Kleber im „HeuteJournal“die heile Post-Corona-Welt entwarf, war in den für Handelsfragen zuständigen Abteilungen ihres Hauses der Teufel los. Um künftig zu verhindern, dass von der EU reservierte oder bereits gekaufte Impfdosen europäische Produktionsstätten Richtung Großbritannien oder Übersee verlassen, hatte die Behörde mit heißer Nadel eine Verordnung gestrickt, die derartige Exporte genehmigungspflichtig macht.
Wie aber sollte man verhindern, dass auf dem Weg über Irland und Nordirland unkontrolliert Impflieferungen ins Vereinigte Königreich gelangen würden? Ganz einfach: Man aktivierte die im Nordirlandprotokoll vorgesehene Notbremse und kündigte Kontrollen an. Damit schickte sich die Kommission an, genau die heilige Kuh zu schlachten, die sie in den Brexitverhandlungen stets als unantastbar erklärt hatte: Die offene Grenze zwischen Irland und Nordirland, die aus EU-Perspektive die friedliche Entwicklung im Norden garantiert.
Aus dem Kabinett der neuen irischen Kommissarin Mairead McGuinness ist zu hören, dass dort niemand zu Rate gezogen wurde. Auch die Brexitspezialisten um Chefunterhändler Michel Barnier wurden nicht informiert. Wäre der Ire Phil Hogan noch fürs Handelsressort zuständig, so raunt man in der Kommission, wäre eine solche Panne niemals passiert. Sein Nachfolger Valdis Dombrovskis hatte offenbar das Impfproblem so fest im Blick, dass er darüber das Nordirlandproblem völlig aus den Augen verlor. Die letzte Verantwortung aber liegt natürlich bei Ursula von der Leyen.
Sie muss letztlich auch den Kopf dafür hinhalten, dass die Kommission vergangenen Freitag die mit Astra-Zeneca vereinbarten Schwärzungen am veröffentlichten Vertragstext so schlampig vornahm, dass heikle Stellen wie Preisabsprachen noch zu lesen waren. Damit hat die Kommission die Vertraulichkeitsklausel gebrochen. Das mag der
Grund dafür sein, dass die letzte Woche heftig geäußerte Kritik an dem Pharmakonzern mittlerweile völlig verstummt ist.
Als wäre das alles nicht Ärger genug, meldete sich Montagabend von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker zu Wort. Die Einkaufspolitik seiner Nachfolgerin kritisierte er als zu schleppend. Mit der neuen Exportverordnung habe die EU den Pfad der Solidarität verlassen. Dass es an der Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreiches ebenfalls Ärger gibt, ist da fast nur noch eine Randnotiz. Laut Nordirlandprotokoll stellen britische Zollbeamte und EU-Fachleute an nordirischen Häfen sicher, dass Waren nicht unkontrolliert in die EU gelangen. Da diese Beamten zunehmend Drohungen ausgesetzt sind, wurde in den vergangenen Tagen nur am Schreibtisch kontrolliert.
Ursula von der Leyen hat das Nordirlandprotokoll nicht erfunden. Den Brexitexperten war klar, dass es entweder zu massiven Problemen im Lieferverkehr zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland oder zwischen Nordirland und der Republik Irland führen würde. Nun scheint sich schon wenige Wochen nach dem endgültigen EU-Austritt an beiden Fronten die Wut zu stauen. Das ist ein Problem für eine Politikerin, die seit Monaten aus dem Lockdown heraus Europa zu steuern versucht. Sie hätte allerdings auf viel Expertise im eigenen Haus zurückgreifen können. Intern kommunizieren und delegieren war aber schon in anderen Ämtern nicht ihre Stärke.