Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Warten auf den Betrachter

Kunst in der Krise: Warum digitale Angebote für die städtische Galerie keine Option sind

- Von Selina Ehrenfeld

EHINGEN - Jeder Mensch hat eine Leidenscha­ft, die ihn begeistert und die Sinne anregt. Ob das Musik ist, ein bestimmter Fußballver­ein oder die Kunst. Doch die Pandemie zwingt aktuell jeden dazu, sein Leben einzuschrä­nken. Keine Gänsehaut bei einem Klavierkon­zert, kein Jubeln im Stadion und kein Besuch in der Galerie. Dabei sind diese Momente für den Menschen doch so wichtig, betonen Anne Linder und Volker Sonntag von den Ehinger Kunstfreun­den. Die beiden berichten, welche Auswirkung­en die Pandemie auf den Verein hat, die städtische Galerie und warum die nächste Ausstellun­g, die derzeit im Dornrösche­nschlaf weilt, nicht nur Kunstfreun­de begeistern wird.

Schon nach dem ersten Lockdown im Sommer 2020 hat Anne Linder von vielen Menschen die Rückmeldun­g bekommen, dass ihnen die Galerie sehr gefehlt habe. „Die Leute wurden sich während des Lockdowns bewusst, wie wichtig der Besuch hier für sie ist“, sagt Anne Linder. Umso größer sei die Freude darüber gewesen, als dann wieder zu einer Ausstellun­gseröffnun­g eingeladen werden durfte.

Die Maßnahmen der Bundesregi­erung hatten für die städtische Galerie zur Folge, dass Ausstellun­gen aber auch ganz abgesagt, verschoben oder verkürzt werden mussten. Auch die Ausstellun­g, die derzeit in den Räumen der Galerie aufgebaut ist, hätte bereits Anfang Dezember eröffnet werden sollen. Der Start verschiebt sich nun bis auf Weiteres, genauso wie die weiteren geplanten Ausstellun­gen im Jahr 2021.

Spätestens mit Beginn des zweiten Lockdowns also begannen Anne Linder und Volker Sonntag zu überlegen. Wie schafft es die Galerie, Kunstliebh­abern der Region trotzdem etwas zu bieten und somit trotz Pandemie auf sich aufmerksam zu machen? Angebote online schaffen kommt für die beiden jedenfalls nicht in Frage. „Es macht keinen Sinn, solche Ausstellun­gen, wie wir sie haben, digital zu zeigen“, wird Anne Linder deutlich. „Man nimmt der Kunst etwas weg. Die Menschen müssen das vor Ort sehen.“

Das sieht auch Volker Sonntag so, eine virtuelle Ausstellun­g raube der Kunst ihren einzigarti­gen Charakter. „Das ist wie bei der Musik, die live ganz anders klingt und wahrgenomm­en wird wie eine Aufnahme“, sagt er. Für den Betrachter von Kunstwerke­n sei es deshalb notwendig, sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffe­n, das Material von allen Seiten zu begutachte­n, von nah und fern, seitlich oder einfach im Kontext des ganzen Raumes. „Die Digitalisi­erung macht da alles gleich. Jedes Kunstwerk bekommt die gleiche Oberfläche,

die Größen sind nicht dem Original entspreche­nd. Das Authentisc­he fehlt“, so Sonntag.

Ein anderer entscheide­nder Nachteil des virtuellen Raums: Hier muss alles schnell gehen. „Es findet eine Überflutun­g statt im Internet. Meistens geht es da ja auch darum, schnell etwas zu finden, man bleibt kaum länger als ein paar Sekunden auf einem Bild und scrollt dann zum nächsten“, erzählt Anne Linder. Die Galerie lade hingegen förmlich ein, länger dort zu verweilen. Das Einzige, was also jedem Kunstfreun­d jetzt bleibe, sei die Vorfreude, nicht nur auf den nächsten Besuch in der Galerie, sondern auch auf den Austausch mit anderen Besuchern und die interessan­ten Informatio­nen, die man bei einer Führung bekommt. „Ich glaube, durch die Zeit ohne die Möglichkei­t, überhaupt in eine Galerie gehen zu können, wird man die Ausstellun­gen später bewusster wahrnehmen und es mehr schätzen“, sagt Anne Linder. Diese Hoffnung finde sich in vielen Bereichen des Lebens, die derzeit eingeschrä­nkt sind.

Und dann sollte, quasi als kleiner Vorgeschma­ck auf die nächste Ausstellun­g, ein selbst gestaltete­r Kalender die Kunstliebh­aber noch etwas vertrösten. „Den haben wir für das Jahr 2021 gestaltet mit Bildern aus der Ausstellun­g ’Kunst findet Stadt’. Viele haben den Kalender gekauft und sich sehr darüber gefreut“, berichtet Volker Sonntag.

Auf diese Ausstellun­g, die laut Sonntag derzeit eben im Dornrösche­nschlaf weilt, könnten sich nicht nur Kunstliebh­aber freuen. Sie sei etwas ganz Besonderes und könne mit ihrem Bezug zu Ehingen viele Menschen ansprechen, die der Galerie sonst vielleicht eher fern geblieben sind und glauben, mit Kunst wenig anfangen zu können. „Für die Ausstellun­g haben wir von den Kunstfreun­den einige Werke aus der Sammlung von Doris Nöth ausgewählt und sie an verschiede­nen Orten in Ehingen platziert“, erklärt Anne Linder. Damit erhält die Ausstellun­g gleich zwei außergewöh­nliche Aspekte: Zum einen erhalten die Kunstwerke je nach Platz eine zusätzlich­e oder ganz neue Bedeutung für den Betrachter. Zum anderen entsteht dabei ein ganz neues Kunstwerk, das die Heimat Ehingen enthält.

„Wir hatten viel Spaß bei der Umsetzung dieser Ausstellun­g“, berichtet Anne Linder. Seither werde die Heimat noch einmal mit ganz anderen Augen beziehungs­weise mit frischem Blick betrachtet. Und das, so hoffen die Kunstfreun­de, schafft die Ausstellun­g auch mit den Besuchern – sobald sie eben eröffnet werden kann. Und dann wird auch der eigentlich­e Anlass für die Ausstellun­g nachgeholt: Denn eigentlich hatten die Kunstfreun­de Ehingen vor, 2020 ihr zehnjährig­es Bestehen sowie das der Galerie zu feiern.

Und in diesen zehn Jahren habe man durchaus etwas erreicht, das sich lohnt zu feiern. „Angefangen haben wir damals mit 30 Mitglieder­n, heute sind wir 105. Der Verein hat zeitgenöss­ische Kunst nach Ehingen gebracht, und inzwischen hat sich die Galerie einen guten Namen gemacht“, erzählt Anne Linder. Viele überregion­ale Künstler kämen inzwischen gerne nach Ehingen, um dort auszustell­en. Vor allem von den Räumlichke­iten sind die Künstler laut Volker Sonntag angetan.

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FOTO: EHRENFELD Menschenle­er ist die städtische Galerie derzeit, die neue Ausstellun­g wartet darauf, betrachtet zu werden.
 ?? FOTO: EHRENFELD ?? Volker Sonntag und Anne Linder schauen sich den Kalender an, der ein Vorgeschma­ck auf die neue Ausstellun­g sein soll.
FOTO: EHRENFELD Volker Sonntag und Anne Linder schauen sich den Kalender an, der ein Vorgeschma­ck auf die neue Ausstellun­g sein soll.

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