Gedenkbücher erinnern an die Ermordeten
jene Zuwendung zu schenken, die ihr von ihrer Familie verwehrt wurde“. Außerdem ordnet er diese individualisierte Erzählung in den allgemeinen historischen Hintergrund ein.
Burmester ist Professor für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft, er ist Chemiker und Mathematiker. Die Akribie des Naturwissenschaftlers tritt zutage, wenn Burmester darstellt, wie der NS-Staat den systematischen Hungertod des als „unwert“eingestuften Lebens organisierte. Er zeichnet minutiös nach, welche betriebswirtschaftlichen Maßnahmen die Rentabilität der Heilanstalten steigern sollten.
Die Lektüre ist bedrückend. Rekonstruiert wird die Geschichte eines fürchterlichen Schicksals, das kein Einzelfall war. Das Mädchen Ursula erlebt eine wohlbehütete Kindheit in einer gut situierten Familie. Mit sieben bekommt sie eine Hirnhautentzündung. Danach ist nichts mehr wie vorher; sie hat nachts schwere Krämpfe, ist untertags unausgeglichen. Dazu kommt die wirtschaftliche Depression. Der Vater verliert seine Arbeit als Bankdirektor, und dann stirbt auch noch die Mutter. Da ist Ursel zwölf. Sie gilt als schwer erziehbar. Der Vater gibt sie zunächst in die Obhut eines Pastors.
Im Bodenseekreis und in Ravensburg ist ein elektronisches Gedenkbuch im Entstehen, das den Opfern der NS-„Euthanasie“aus den Anstalten im Südwesten gewidmet ist. Ins Leben gerufen hat dies emeritierter Professor und ehemaliger Leiter des Zentrums für Psychiatrie Weissenau. Ziel dieses Projektes ist es, den in der sogenannten T4-Aktion Ermordeten ein Gesicht und eine Geschichte zu geben. Das elektronische Gedenkbuch (zu finden
Als er das nicht mehr bezahlen kann, weist die Fürsorge die Heranwachsende in die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel ein.
Eine entsetzliche Abwärtsspirale: Ursula lehnt sich gegen die „Erziehungsversuche“auf und wird immer heftiger bestraft. Sie darf sich nicht einmal mehr ihren Freundinnen nähern. Liebe ist nicht vorgesehen in diesem System und gleichgeschlechtliche Liebe schon gar nicht. Eine Sünde, verboten, böse. Die Patientinnen werden zuerst ihrer Würde beraubt und dann um ihre Leben gebracht. über bodenseekreis.de bzw. Ravensburg.de) richtet sich an Verwandte der Opfer. Sie können vielleicht durch Aufzeichnungen und Fotos das Schicksal dieser Vergessenen weiter erhellen. Im öffentlich zugänglichen Teil, werden die „Befunde“der Ärzte nicht übernommen, um die Opfer (und ihre Familien) nicht noch einmal zu demütigen. Erst auf Nachfrage können Verwandte Details erfahren. Dies war Otto Schmidt-Michel ein besonderes Anliegen. (bami)
Otto Schmidt-Michel,
Auf dem Totenschein der Ursula Murawski vom 15. 3. 40 vermerkt ein Arzt: „heute Exitus letalis. Todesursache: Allgemeiner Marasmus“. Das heißt Auszehrung. Aber das verschweigt, dass diese Auszehrung herbeigeführt wurde. Es war der staatlich verordnete, organisierte Hungertod.
Andreas Burmester: Versandung. Annäherung an eine einzige gesprochene Andeutung.
Vergangenheitsverlag Berlin 2020. 247 Seiten. 18 Euro.