„Ein Griff zum Hörer reicht“
Die Leiterin der Telefonseelsorge erklärt, wie die Pandemie die Menschen beeinflusst
ULM (simü) - Die Corona-Pandemie geht an die Substanz. Sozialer Kontakt ist in dieser Zeit kaum möglich und viele Menschen fühlen sich dadurch einsam, alleine und verlassen. Eine Möglichkeit für diese Menschen, um über die eigenen Probleme zu sprechen, ist die Telefonseelsorge. Renate Breitinger leitet gemeinsam mit Dr. Stefan Plöger seit 1998 die Stelle in Ulm/Neu-Ulm, die nicht nur für die Region rund um Ehingen zuständig ist, sondern bis nach Aalen hinauf Anrufe annimmt. In den 23 Jahren hat Renate Breitinger schon die vielfältigsten Probleme miterlebt. Die Pandemie stellt die Telefonseelsorge aber vor ganz neue Herausforderungen. Die Leiterin erzählt im Interview mit SZ-Volontär Simon Müller, mit welchen neuen Ängsten und Sorgen die Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm zu tun hat.
Frau Breitinger, rufen aufgrund der Pandemie mehr Menschen bei ihrer Stelle an, um über ihre Probleme am Telefon zu sprechen?
Im Jahr 2020 hatten wir 12 250 Gespräche bei der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm. Das waren etwa 1 000 mehr als im Jahr davor. Aber ich muss dazu sagen, dass die Kapazität sowieso schon ausgeschöpft ist und wir gar nicht hätten mehr Gespräche annehmen können.
Das heißt, dann kommt man einfach nicht durch mit seinem Anruf ?
Nicht ganz. Wenn aus unserem Einzugsgebiet die Leitungen besetzt sind, dann wird man automatisch an die Stellen in Stuttgart und Heilbronn weitergeleitet, mit denen wir zusammenarbeiten. Erst wenn da auch niemand rangehen kann, kommt der Anruf nicht durch.
Stimmt die Vermutung, dass die Pandemie das Hauptanliegen ist, warum Menschen derzeit bei Ihnen anrufen?
Ich glaube, viele Menschen hätte trotzdem angerufen. Wir haben festgestellt, dass im vergangenen Frühjahr 36 Prozent aller Anrufe von der Corona-Problematik begleitet wurden, weil es für viele in dieser Zeit ein einschneidendes Erlebnis war. Im Dezember haben nur noch 25 Prozent wegen Corona-Themen angerufen. Allerdings muss man sagen, dass sehr viele Gespräche mit den Problemen der Pandemie verbunden waren, denn es ging oft um Ängste.
Welche Ängste waren das?
Das waren zunächst oft gesundheitliche Ängste. Also was passiert, wenn ich mich mit dem Virus infiziere? Das waren meist eher ältere Menschen, die das belastet hat. Dann haben wir in der zweiten Welle aber festgestellt, dass die Ängste oft mit Einsamkeit verbunden waren. Es haben dann die Menschen vermehrt angerufen, die alleine wohnen und sich verlassen fühlen. Insgesamt kann man sagen, dass es in diesen Gesprächen um Einsamkeit, depressive Stimmung, das körperliche Befinden und die familiären Beziehungen ging. Diese Probleme und Sorgen sind bei vielen schon länger da, aber durch die Pandemie wurden sie verstärkt.
Also sind es fast nur alleinstehende Menschen, die die Telefonseelsorge in Anspruch nehmen?
Überwiegend. Allerdings muss man auch sehen, dass zwei Drittel der Menschen, die anrufen, psychisch oft schwierig erkrankt sind. Und Menschen mit chronisch psychischen Probleme und den daraus folgenden Einschränkungen, die die Krankheiten mit sich bringen, leben eben sehr oft alleine.
Warum hilft es diesen Menschen aus ihrer Sicht, dass sie am anderen Ende der Leitung jemanden haben, mit dem sie über ihre Probleme sprechen können?
Sprechen ist immer eine Entlastung. Wenn man mit jemandem über
Probleme spricht, hilft das – besonders den Menschen, die niemandem in ihrem Umfeld haben, um ihre Gedanken zu teilen. Bei der Telefonseelsorge vermitteln wir den Anrufern das Gefühl, dass sie ihre Sorgen teilen können und dass ihnen zugehört wird. Eine wichtige Rolle spielt auch: Die Menschen rufen an, weil sie vorurteilsfrei behandelt und nicht bewertet werden. Sie werden so angenommen wie sie sind.
Reicht es dabei zuhören zu können. Oder welche Fähigkeiten braucht man, um in der Telefonseelsorge arbeiten zu können?
Zunächst muss man sagen, dass die Arbeit am Telefon Ehrenamtliche machen. Aber diese Ehrenamtlichen durchlaufen ein Jahr lang eine Ausbildung mit insgesamt 140 Kursstunden und sind sehr geschult in dem, was sie tun.
Und auf was müssen die Ehrenamtlichen achten?
Zum einen müssen sie versuchen, dass keine Selbstbetroffenheit entsteht. Oft sind am Telefon Themen dabei, die einen auch selbst belasten können und da muss man souverän zwischen dem Anruf und dem eigenen Leben trennen. Ein anderer wichtiger Teil ist dann die Gesprächsführung. Also wie muss ich mit den Menschen am Telefon umgehen und wie ist der Gesprächsaufbau? Da gibt es einfach ein paar wichtige Dinge zu berücksichtigen.
Wie viele Ehrenamtliche arbeiten derzeit bei der Ulmer Stelle und wie sieht die Arbeit vor Ort aus?
Aktuell sind es 80 Aktive, die jeweils drei Mal im Monat einen Dienst haben. Diese Zahl an Ehrenamtlichen brauchen wir auch, um den Dienstplan einzuhalten. Wir sind rund um die Uhr mit einer Person besetzt, aber von 18 bis 22 Uhr sind immer zwei Personen am Hörer. Da rufen nämlich die meisten Menschen an. Die Anrufe tätigen wir von unserer Geschäftsstelle in Ulm aus, weil wir ein Tool haben, das nur auf dem PC hier installiert ist. Aber bei der digitalen Beratung können Kollegen auch von daheim aus arbeiten.
Und wie finanziert sich das alles?