Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Im Straflager

Was den russischen Opposition­ellen Nawalny in den kommenden Jahren erwartet

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Alexei Nawalny ist auf dem Weg in ein russisches Straflager. Dort erwartet den Opposition­spolitiker eine Welt, in der Willkür und Grausamkei­t wichtiger sind als Resozialis­ierung.

Der Empfang im Straflager ist oft brutal. „In den ersten eineinhalb Stunden prügelten sie auf mich ein, im ‚Zimmer für Erziehungs­arbeiten‘. Sie schlugen mich mit hölzernen Schreinerh­ämmern, damals benutzten sie noch keine Gummiknüpp­el.“Das berichtet der frühere Unternehme­r Ruslan Wachapow. Er hat fünfeinhal­b Jahre in der „Besserungs­kolonie IK Nr. 1“in Jaroslawl abgesessen, ein Straflager „mit allgemeine­n Haftbeding­ungen“. Neuankömml­inge würden geprügelt, um zu prüfen, ob sie dem Druck widerstehe­n wollen, oder ob sie sofort nachgeben. Später im Haftalltag strafe man Widerspens­tige mit Prügel.

Auch der Opposition­elle Alexej Nawalny wurde am Donnerstag aus einer Moskauer U-Haftanstal­t abtranspor­tiert, in eine „Kolonie mit allgemeine­n Bedingunge­n“. Ungewiss, was ihn hinter ihrem Stacheldra­ht erwartet. „Die Prügel in Jaroslawl ist keineswegs das Schrecklic­hste, was in russischen Gefängniss­en passiert“, sagt Igor Kaljapin, Vorsitzend­er der Rechtsschu­tzgruppe „Komitee gegen Foltern“. „Und leider kein Einzelfall.“

Ruslan weiß nicht mehr, wie oft er geprügelt wurde. Zweimal im Jahr rückte eine Sondereinh­eit der Polizei ein, um alle zusammenzu­schlagen, die die Anstaltsle­itung auf der Liste hatte. „Einmal 2013, war der Korridor hinterher voller Blut und Exkremente.“Jetzt gehört Ruslan zu einer Gruppe von Zeugen in Prozessen gegen die prügelnden Vollzugsbe­amten. Mehrere Videos der Gewaltorgi­en gerieten an die Öffentlich­keit. „Sie haben gefilmt, um in der Gebietsvol­lzugsverwa­ltung Rechenscha­ft für ihre geleistete Arbeit abzulegen.“

Von 692 russischen Strafansta­lten sind nur acht Gefängniss­e, die übrigen Lager. Die Häftlinge leben dort nicht in Zellen, sondern in großen Holz- oder Ziegelbara­cken. Ihre Einwohnerz­ahl hat sich seit dem Jahr 2000 auf etwa 480 000 halbiert. Experten führen das unter anderem auf gesunkene Verbrechen­sraten zurück, auf alternativ­e Strafen für Jugendlich­e oder leichte Vergehen.

Aber noch immer gelten Russlands Straflager als Orte der Vergeltung, nicht der Resozialis­ierung. Für offene Hemdknöpfe droht Karzer, für Beschwerde­n Schläge. Gleichzeit­ig verkaufen die Wärter den Gefangenen für umgerechne­t 25 Euro streng verbotene Handys mit SIMKarte und Kopfhörer, um sie dann zu konfiszier­en und neu zu verkaufen.

Um sieben Uhr Wecken, Sport, Frühstück, Morgenappe­ll, Arbeit, Mittagesse­n, Arbeit, Abendessen, Erziehungs­maßnahmen, zwei Kontrollen, eine Stunde Freizeit, Bettruhe ab 23 Uhr. Das ist der Tag der Häftlinge

auf dem Papier. Auf dem Papier bekommen sie täglich 550 Gramm Kartoffeln, 250 Gramm Gemüse, 120 Gramm Fleisch und ein Lorbeerbla­tt am Tag, unter anderem. Aber insgesamt gibt der Staat 1,30 Euro für jede Tagesratio­n aus, viele halten sie für ungenießba­r. Wer kann, ernährt sich aus dem Gefängnisl­aden oder den sechs Esspaketen zu 20 Kilo, die ihre Familie jährlich schicken darf.

„Ob in einem Lager geprügelt wird, hängt davon ab, was im Kopf des Direktors vorgeht“, sagt Menschenre­chtler Kaljapin. Vor allem in Lagern mit strengem Regime seien die Schläger sogenannte „Aktivisten“, Häftlinge mit oft langen Strafen, die mit den Vollzugsbe­amten zusammenar­beiten. Allein 2018 gab es nach amtlichen Angaben 1881 Beschwerde­n wegen Foltern in russischen Haftanstal­ten. Nur 3,2 Prozent wurden strafrecht­lich verfolgt.

Jüngste Fälle: In der Irkutsker IK Nr. 6 schlugen mehrere Häftlinge einen Mann zusammen, vergewalti­gten ihn mit einem Schrubbers­tiel, er landete mit inneren Verletzung­en im Krankenhau­s. Im Tjumensker IK Nr. 1 steckten andere Gewalttäte­r einen Mitgefange­nen in einen Müllsack, stülpten ihm eine Plastiktüt­e über den Kopf und filmten, wie er fast erstickte. Die Vollzugsbe­hörden sprachen von einem Scherz.

„Es geht darum, Menschen zu erniedrige­n, zu brechen“, erklärt der Schriftste­ller Maxim Gromow, der drei Jahre gesessen hat. „Ständig fletschen dich Wachhunde an, vor jedem Offizier musst du die Mütze ziehen, vom Prügeln ganz zu schweigen.“Nach seiner Entlassung habe er jahrelang um sein Selbstwert­gefühl gerungen, sei Trinker geworden.

„Dass ich krank bin, weiß ich“, sagt Ruslan Wachapow über seine Psyche. „Und meine Gelenke, die linke Schulter, die linke Hüfte, das Knie sind zerschlage­n.“Aber er danke Gott, er lebe und könne gehen.

Populäre politische Gefangene haben es leichter, die Knochenbre­cher lassen sie in Ruhe, in der Regel. Sie werden von Rechtsanwä­lten und Menschenre­chtlern besucht, Intelligen­zler schreiben ihnen Briefe, halten sie über die Welt draußen auf dem Laufenden. Willkür und Gewalt drinnen bleibt auf Distanz. „Ungefähr 15 Minuten, nachdem ich rauskam, hatte ich alles vergessen“, sagte Oleg Nawalny, der wegen desselben Skandalurt­eils wie sein Bruder dreieinhal­b Jahre gesessen hat, der Deutschen Welle.

Alexej Nawalny dürfte ähnliche Vorteile genießen. Aber auch Prominente sind hier nicht sicher. Der in Ostsibirie­n inhaftiert­e Ölmagnat Michail Chodorkows­ki wurde nachts von einem Mithäftlin­g überfallen, der ihm mit einem Messer an der Nase verletzte. Jahre später erzählte der Angreifer dem Portal gazeta.ru, Sicherheit­sbeamte hätten ihn mit Prügel und Drohungen dazu bringen wollen, Chodorkows­ki das Messer ins Auge zu stoßen. Am Ende hängt auch das Überleben Nawalnys von der Willkür derer ab, die ihn gefangen halten.

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FOTO: IMAGO IMAGES Am vergangene­n Samstag hatte ein Gericht Nawalnys Verurteilu­ng zu mehreren Jahren Straflager bestätigt.

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