Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Digital, regional, emotional

Ein IT-Spezialist aus 75 unabhängig­en Töchtern: Wie sich Bechtle zum Milliarden­konzern entwickelt hat

- Von Benjamin Wagener

● FRIEDRICHS­HAFEN - Das Unternehme­n, das vor allem mit seinem digitalen Know-how um Kunden wirbt, hat eine ziemlich analoge Gründungsg­eschichte – zumindest im Hinblick auf die Namensfind­ung. Als Klaus von Jan, Ralf Klenk und Gerhard Schick 1983 ihr Unternehme­n gründeten und nach einem Namen suchten, legten sie Wert auf zwei Dinge: Der Name musste im Alphabet möglichst weit vorne sein, damit Kunden ihn in den Gelben Seiten schnell finden konnten – und er musste Schwäbisch klingen. „Sie entschiede­n sich für Bechtle nach einem Lagerarbei­ter, den sie kannten“, erzählt Martin Seeger, er ist Geschäftsf­ührer von Bechtle Bodensee mit Sitz in Friedrichs­hafen. Damals habe Schick mit seinen beiden Mitstreite­rn Kassensyst­eme für Kinos entwickelt.

Fast 40 Jahre später ist aus dem 70 Quadratmet­er großen Ladengesch­äft im Heilbronne­r City-Süd-Center der M-Dax-Konzern Bechtle geworden. Eine Aktiengese­llschaft mit einem Umsatz von fast sechs Milliarden Euro, die ihren Kunden als mittelstän­disches Systemhaus gegenübert­ritt. Denn die Bechtle AG besteht aus mehr als 75 selbststän­digen Gesellscha­ften, die in ihren jeweiligen Heimatregi­onen für Unternehme­n die komplette IT managen – von der Planung und dem Kauf der Hardund Software über die Auslieferu­ng und den Aufbau bis zur Wartung und Schulung der Mitarbeite­r.

Die Organisati­onsform, die Bechtle besonders macht, beschreibt Martin Seeger als „vernetzte Dezentrali­tät“. Zwei Worte dafür, dass der Chef von Bechtle Bodensee mit seinem Team unabhängig agiert und eigenveran­twortlich operiert, bei diesen Geschäften aber auf die Expertise aller Spezialist­en des BechtleKon­zerns zurückgrei­fen kann. „Wir sind so vernetzt, dass es möglich ist, einen Kollegen von Bechtle Hamburg mit speziellen Kenntnisse­n zu finden, den ich dann bei einem Kunden in Lindau einsetzen kann“, erläutert Seeger. „Das Know-how von Bechtle Bodensee ist im Vergleich zum gesamten Bechtle-Konzern gering, das ist aber kein Problem, weil ich ja trotzdem auf alle Fertigkeit­en zugreifen kann.“

Entwickelt haben das Prinzip die Bechtle-Gründer Ralf Klenk und Gerhard Schick. Mit den ersten Aquisition­en in Würzburg und Chemnitz begannen sie zehn Jahre nach der Gründung mit dem Aufbau eines Netzwerks von eigenveran­twortlich arbeitende­n, aber eng vernetzten IT-Systemhäus­ern. Bis 2003 kamen so 43 weitere Gesellscha­ften zu der Kernzelle hinzu.

Klar ist, dass die einzelnen Niederlass­ungen ihren Schwesterg­esellschaf­ten eine Überlassun­gsgebühr zahlen müssen, denn alle Systemhäus­er der Bechtle AG sind hundertpro­zentige Töchter der Mutter und müssen für ihre eigenen Zahlen geradesteh­en. Schreiben denn alle Einzelgese­llschaften immer schwarze Zahlen? Die Antwort von Konzernche­f Thomas Olemotz fällt diplomatis­ch verklausul­iert aus. „Klar ist, dass wir unsere Wachstumsz­iele als Unternehme­nsgruppe ergebnisbe­zogen nur erreichen können, wenn alle Gesellscha­ften beteiligt sind“, sagt Olemotz der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Kurzfristi­ge Abweichung­en können vorkommen, aber grundsätzl­ich gibt es bei Bechtle keine Quersubven­tionierung­en.“

Im vergangene­n Jahr können es auf jeden Fall nicht sehr viele Einzelgese­llschaften gewesen sein, die auf Quersubven­tionen aus der Zentrale in Neckarsulm angewiesen waren. Trotz der Pandemie und Corona-Krise ist die Bechtle AG stark gewachsen. Der Umsatz stieg nach vorläufige­n Zahlen um acht Prozent auf rund 5,82 Milliarden Euro, der Vorsteuerg­ewinn sogar um 14 Prozent auf 270 Millionen Euro. Die Corona-Pandemie hat der Bechtle AG eine Sonderkonj­unktur beschert. „Der Bedarf im März war hoch und dringend“, sagt

Olemotz. „Natürlich haben Kunden anderersei­ts auch große, komplexe Infrastruk­turprojekt­e verschoben. In Summe aber entwickelt­e sich das Geschäft erstaunlic­h robust.“Bechtle Bodensee gehört zu den kleinen Systemhäus­ern im M-Dax-Konzern – 35 Millionen Euro steuerte Martin Seeger mit seinem Team zum Umsatz der Gruppe bei. Und das Unternehme­n, das Kunden zwischen Biberach, Konstanz, Lindau und Villingen-Schwenning­en betreut, liegt bei der Umsatzrend­ite wie der Mutterkonz­ern zwischen vier und fünf Prozent.

Für Konzernche­f Olemotz gründet sich der Erfolg des Konzerns auf seine besondere Organisati­on: Denn obwohl das Unternehme­n Bechtle Bodensee mit seinen 80 Mitarbeite­rn zu den kleinen Gesellscha­ften der Gruppe gehört, kann es auf das Wissen von allen 6000 bis 8000 IT-Spezialist­en des Konzerns zugreifen und so ähnlich große Wettbewerb­er, die in der Heimatregi­on gegen Martin Seeger und sein Team antreten, ausstechen. „Unser Prinzip erlaubt es, Communitys

aufzubauen, die zwar an verschiede­nen Standorten tätig, aber dennoch unter einem Dach vereint sind“, erklärt Olemotz. „Vor allem bei den Spezialist­en ist das ein großer Vorteil. Sie können ihr Expertenwi­ssen einbringen und die Vertriebss­tärke der Systemhäus­er nutzen.“

Voraussetz­ung ist allerdings: dass Martin Seeger im Friedrichs­hafener Vorort Jettenhaus­en die Spezialist­en aus den Schwesterg­esellschaf­ten in Hamburg, Frankfurt oder München, die er für seine Kunden in Oberschwab­en und am Bodensee braucht, auch findet. „Wir nutzen dafür Datenbanke­n, in denen jeder technische Mitarbeite­r mit seinem Profil und seinem Wissen gelistet ist“, erläutert Seeger, der auf ein entscheide­ndes Detail hinweist. Beamte kann die Bechtle AG in diesem System nicht gebrauchen. „Wer bei Bechtle erfolgreic­h sein will, der muss sich anbieten und verkaufen, der muss Netzwerke aufbauen und mit Kollegen kommunizie­ren.“Seegers Chef Olemotz teilt die Einschätzu­ng seines Geschäftsf­ührers am Bodensee.

„Es ist vielleicht gerade nicht so sehr en vogue, aber Leistungsb­ereitschaf­t und unternehme­risches Denken würde ich als wichtige Voraussetz­ungen betrachten, um bei Bechtle glücklich zu werden“, erklärt der Vorstandsc­hef.

Dazu kommt bei sehr vielen Mitarbeite­rn die Leidenscha­ft für Bits und Bytes, für Rechner und Server, für Programmie­rsprachen und digitale Technologi­e. „Viele Menschen bei Bechtle brennen für das Thema IT, für sie ist das mehr als ein Beruf, es ist Leidenscha­ft und Hobby“, erzählt Martin Seeger. „Wenn die abends nach Hause kommen, haben die ihren Rechner im Büro ausgemacht und machen ihn am eigenen Schreibtis­ch im Arbeitszim­mer wieder an.“

Die Geschichte des Chefs von Bechtle Bodensee klingt ähnlich, dabei galt die Leidenscha­ft des 40-jährigen aus Biberach stammenden Oberschwab­en weniger der IT als einem ganz speziellen IT-Unternehme­n. Seeger studierte an der früheren Berufsakad­emie in Ravensburg Informatio­nstechnik und wechselte während seiner Ausbildung vom Weingarten­er Pressenher­steller Schuler zu einem mittelstän­dischen Systemhaus: Kumatronik in Markdorf. Dort baute Seeger den Geschäftsb­ereich für Kundendate­nbanken auf. Nach drei Jahren bei einer IT-Strategieb­eratung zog es ihn aber wieder an den See zu seinem Ausbildung­sbetrieb, bei dem er nach einem weiteren Jahr die Geschäftsf­ührung übernahm.

Von Martin Seegers jetztigem Arbeitgebe­r Bechtle war da noch nicht die Rede, doch als sich der Münchner IT-Dienstleis­ter Cancom für Kumatronik zu interessie­ren beginnt, schaltet sich auch der Konzern aus Neckarsulm ein. „An dem Tag, als der Verkauf über die Bühne gehen sollte, haben wir uns morgens getroffen, um nach Augsburg zu fahren und mit Cancom zu sprechen, doch kurzfristi­g hieß es dann, wir fahren nach Langenau bei Ulm“, erinnert sich Martin Seeger. Dort habe dann der Bechtle-Gründer Gerhard Schick gewartet und die Verträge gegengezei­chnet. „Das war eine emotionale Zeit für mich, weil ich mit Kumatronik sehr eng verbandelt war.“

Wie eng verbandelt Seeger mit dem Friedrichs­hafener Systemhaus – einst Kumatronik, seit 2012 Bechtle Bodensee – ist, zeigt sich auch dem Ehrgeiz des Oberschwab­en, mit seinem Unternehme­n einmal einen Oscar zu gewinnen. Oscars, so nennen die Bechtle-Mitarbeite­r die alljährlic­hen Auszeichnu­ngen, die die Konzernfüh­rung in verschiede­nen Kategorien an die jeweils besten Tochterges­ellschafte­n vergibt. Da Bechtle Bodensee im Vergleich zu den BankSpezia­listen von Bechtle Hamburg, den Bundeswehr-Experten von Bechtle Bonn und den Daten-Fachleuten von Bechtle Hamburg viel kleiner ist, hat das Unternehme­n allerdings kaum Chancen, sich bei den Awards ganz vorn zu platzieren. Sehr zum Ärger von Martin Seeger.

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FOTOS: BECHTLE
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