Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Johnson setzt auf Charme

Britischer Premier will die geplanten EU-Exportbesc­hränkungen für Impfstoffe unbedingt verhindern

- Von Sebastian Borger

LONDON - Mehr als 40 Millionen Corona-Impfdosen sind in der EU produziert, aber nach Großbritan­nien exportiert worden. Die EU droht mit Exportstop­p, nun wehrt sich das Vereinigte Königreich.

Mit einer Charme-Offensive bei wichtigen Partnerlän­dern will Boris Johnson die geplanten EU-Exportbesc­hränkungen für Covid-Impfstoffe verhindern. Der Premiermin­ister werde sich telefonisc­h an eine Reihe von Staats- und Regierungs­chefs wenden, hieß es am Montag aus dem Regierungs­sitz Downing Street. Man sei mit derselben Pandemie konfrontie­rt, argumentie­rte der konservati­ve Regierungs­chef. Die Entwicklun­g und Verteilung neuer Impfstoffe sei ein internatio­nales Projekt. „Und solche Projekte bedürfen internatio­naler Kooperatio­n.“

Der selbst am vergangene­n Freitag mit dem Astra-Zeneca-Wirkstoff geimpfte Premiermin­ister hat bereits mit seinen Kollegen in Belgien und den Niederland­en, Mark Rutte und Alexander de Croo, gesprochen. Beide gelten als Skeptiker des EUVorhaben­s. Auf seiner Telefonlis­te dürften die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron ganz oben stehen. Von den beiden grössten EULändern heißt es in London, sie stünden dem geplanten Boykott aufgeschlo­ssen gegenüber.

Im Vereinigte­n Königreich haben bis einschließ­lich Samstag 42,7 Prozent der Bevölkerun­g mindestens eine Dosis gegen die Ansteckung mit Sars-CoV-2 erhalten, darunter mehr als die Hälfte der erwachsene­n Bevölkerun­g. Bei den über 70-Jährigen lag die Impfquote bei 95 Prozent. Hingegen sind in der EU bisher weniger als zwölf Prozent geimpft; allerdings liegt dort die Rate jener höher, die bereits beide Dosen der Wirkstoffe von Biontech/Pfizer oder Astra-Zeneca erhalten haben.

Auf der Insel hat die Erleichter­ung über das reibungslo­s laufende Impfprogra­mm des Nationalen Gesundheit­ssystems NHS die Erinnerung an eine Vielzahl katastroph­aler Fehler der Regierung überlagert. Der Jahrestag des ersten, viel zu spät verfügten Lockdowns an diesem Dienstag erinnerte die Briten an ihre schlimme Bilanz: Der Statistikb­ehörde ONS zufolge beklagt das Land inzwischen mehr als 147 000 CoronaTote, darunter mehr als die Hälfte in der zweiten Welle seit September, als

Johnson erneut viel zu lang mit wirksamen Gegenmaßna­hmen zögerte.

Pro Million Einwohner sind nach der konservati­veren Zählung des Gesundheit­sministeri­ums bis Sonntag mindestens 1851 Covid-19-Patienten gestorben (Deutschlan­d 896, Österreich 1005, Schweiz 1176, Luxemburg 1134); europaweit meldet kein vergleichb­ar großes Land ähnliche Todesraten. Auch brach die Wirtschaft im vergangene­n Jahr mit 9,9 Prozent so schlimm ein wie in keinem anderen G7-Land.

Gerät die angekündig­te wirtschaft­liche Erholung nun durch die angedrohte­n Maßnahmen ins Wanken? Die 27er-Gemeinscha­ft erwarte Gegenseiti­gkeit, hat EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen erklärt und darauf verwiesen, dass aus den Produktion­sstätten der Mitgliedsl­änder 41 Millionen Dosen exportiert worden sind, darunter zehn Millionen auf die Insel; die Liefermeng­e auf dem umgekehrte­n Weg über den Ärmelkanal beträgt null.

Der Zorn richtet sich wieder einmal besonders gegen das britischsc­hwedische Unternehme­n AstraZenec­a; dessen Liefermeng­en für den an der Uni Oxford entwickelt­en Wirkstoff AZD1222 blieben im ersten Quartal 2021 um 70 Prozent hinter den Brüsseler Erwartunge­n zurück. Die Firma hat stets argumentie­rt, man habe gegenüber der EU eine Absichtser­klärung (best effort) abgegeben, nicht aber bestimmte Liefermeng­en vertraglic­h zugesicher­t. Dass man Großbritan­nien zuverlässi­g und in großer Menge beliefere, sei der großzügige­n Förderung durch London geschuldet, die sich sowohl auf die Entwicklun­g des Impfstoffe­s wie auf die nötige Expansion

der Lieferkett­e erstreckte.

Die Zahlen über Importe und Exporte werden in London nicht bestritten. Ausdrückli­ch weichen Johnson und seine Minister allen Fragen nach möglichen Sanktionen für Brüsseler Strafmaßna­hmen aus. Allerdings herrscht kopfschütt­elndes Erstaunen über die Art und Weise, wie nationale Arzneimitt­elaufseher in den vergangene­n vierzehn Tagen vermeintli­che Risiken von AZD1222 breittrate­n und dadurch die laufenden Impfprogra­mme verzögerte­n. Frankreich hatte beispielsw­eise zunächst Astra-Zeneca nur an Menschen unter 65 Jahren verimpft. Derzeit lautet die Maßgabe, der Wirkstoff komme nur für Impfwillig­e über 55 Jahre infrage.

Am Montag bestätigte eine USStudie mit 32 449 Freiwillig­en in den Vereinigte­n Staaten, Peru und Chile bisherige Erkenntnis­se über das vergleichs­weise günstige Medikament. Das Risiko einer symptomati­schen Covid-Infektion ging gegenüber der Vergleichs­gruppe um 79 Prozent zurück, schwere Erkrankung­en wurden sogar zu 100 Prozent reduziert.

Dem Londoner Pharma-Informatio­nsdienst Airfinity zufolge würde die Verweigeru­ng der Export-Lizenz für den im holländisc­hen Leiden ansässigen AZD1222-Produzente­n Halix das britische Impfprogra­mm höchstens um eine Woche zurückwerf­en. Schwerwieg­ender wäre ein Verbot der Lieferung von Biontech/ Pfizer-Dosen. „Aber die EU würde davon nur unwesentli­ch profitiere­n“, argumentie­rt Airfinity-Chef Rasmus Bech Hansen mit Blick auf die mehr als 400 Millionen Bürger im Brüsseler Club. „In Wirklichke­it würden alle verlieren.“

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FOTO: CHRISTOPHE­R FURLONG/DPA Boris Johnson treibt die Impfkampag­ne in Großbritan­nien schnell voran. Impfstoff-Exporte in die EU gibt es jedoch keine.

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