Gericht holt Gutachten wegen 5,84 Euro ein
65-jähriger Angeklagter soll „Diebstahl mit Waffen“begangen haben
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RIEDLINGEN - Strafrechtlich hatte der 65-jährige Angeklagte eine blütenweiße Weste. Nun saß er vor dem Riedlinger Amtsrichter, weil er eine Fahrradpumpe im Wert von 5,84 Euro gestohlen haben soll. Da er bei diesem Vorfall im Besitz zweier Klappmesser war, lautete die Anklage auf „Diebstahl mit Waffen“. Am Ende wurde das Verfahren ausgesetzt. Mit einem Gutachten soll jetzt die Schuldfähigkeit des Mannes geklärt werden, bei dem in der Vergangenheit eine schwerwiegende psychische Erkrankung diagnostiziert worden ist.
Der Angeklagte erschien in Begleitung seines Anwalts und eines gesetzlichen Betreuers vor Gericht. Seit 2018 steht er wegen einer psychoaffektiven Störung unter gesetzlicher Betreuung und lebt, nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im ZfP in Bad Schussenried, nunmehr im ambulant betreuten Wohnen. Der Witwer, Vater zweier erwachsener Söhne, bezieht Sozialhilfe. 120 Euro bleiben ihm davon als Taschengeld, berichtete er. Dennoch konnte er sich am 13. August vorigen Jahres ein E-Bike für 700 Euro leisten: „Vom Rest von Papas Erbe.“Das Rad sei ein Schnäppchen gewesen, in einem Riedlinger Supermarkt herabgesetzt von ursprünglich 1000 Euro. Gleich nach dem Kauf habe er jedoch festgestellt, dass es den Reifen deutlich an Druck mangelte, weshalb er in den Supermarkt zurückkehrte. Da man seiner Bitte, etwas Luft nachzufüllen, nicht nachgekommen sei, habe er einige der Luftpumpen aus dem Warensortiment ausprobiert und mit einer davon dann den Mangel behoben. Anschließend, so seine Schilderung, habe er sich noch eine Dose Schmierfett ausgesucht und sich damit zur Kasse begeben. Das Fett für 9,24 Euro hat er nachweislich bezahlt. Die Fahrradpumpe im Wert von 5,84 Euro, die er an das zuvor erworbene Rad geklemmt hatte, habe er jedoch „völlig vergessen“. Geld sei dafür noch mehr als genügend im Portemonnaie gewesen, versicherte der Angeklagte. Im Übrigen habe er bereits mehrere, dazu noch bessere Pumpen zu Hause.
Bei seinem Einkauf war er nicht unbeobachtet geblieben. Dem Kaufhausdetektiv war der Mann sofort aufgefallen, weil er am Eingang zuerst Desinfektionsmittel aus dem Spender in seine Hygienemaske gesprüht und anschließend durch die Nase gezogen habe. Auf Video wurde festgehalten, wie der Angeklagte die Reifen mit einer der Luftpumpen im Supermarkt füllte – und wie er die am meisten geeignete am Fahrrad fixierte: „Es hat ausgesehen, als wenn es ein fest verbautes Teil wäre.“Als der Detektiv den Kunden hinter der Kasse angesprochen habe, sei der sich offenbar keiner Schuld bewusst gewesen. Da er sich nicht ausweisen konnte, wurde die Polizei hinzugezogen. Ein Polizist stellte dann nicht nur die unbezahlte Ware sicher, sondern fand auch noch zwei Klappmesser, eines davon ein sogenanntes Einhandmesser, das mit einer Hand geöffnet werden kann. Bei einem Messer handle es sich um das Geschenk seines Sohnes, erklärte der gelernte Handwerker, das andere habe er immer bei sich: „Ich benütze es für alles mögliche, mal ein Büchsle aufmachen und so.“Auf die Rückgabe der Waffen verzichte er, erklärte er vor Gericht.
40 Euro, schätzte der Polizist im Zeugenstand, hätten sich im Portemonnaie befunden – also ausreichend Geld, um die Pumpe zu bezahlen, wie Richter Wilfred Waitzinger konstatierte. Bei der Vernehmung hat sich der Mann laut Zeuge unauffällig und kooperativ verhalten. Für die Kollegen im Polizeirevier sei er kein Unbekannter gewesen. Allerdings hat er sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Vielmehr ist er in nicht weniger als 46 Verfahren als Antragsteller aktenkundig: Unterschlagung, Diebstahl, Hausfriedensbruch. „Die Anzeige eines Sonderlings“, kommentierte der Verteidiger den Umstand, dass sämtliche Verfahren offenbar im Sande verliefen. Die Pumpe hat der Angeklagte dem Supermarkt unbeschädigt zurückgegeben. Ein materieller Schaden ist somit nicht entstanden, schlussfolgerte Waitzinger. Nun stelle sich die Frage: „Machen wir ein Fass auf, noch ein Gutachten einzuholen wegen der Schuldfähigkeit, oder könnten wir das Verfahren anderweitig beenden?“Eine schwerwiegende psychische Störung in Form einer Schizophrenie liege vor, wie ein Befund vom Februar 2018 dokumentiere. Bereits 1996 soll sich der Mann in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden haben.
Die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft hätte möglicherweise einer Verfahrenseinstellung zugestimmt. Nicht so aber deren Vorgesetzter in Ravensburg, mit dem sie telefonisch Rücksprache hielt. Der sehe kein Erfordernis für ein Gutachten. Weil sich der Angeklagte so kooperativ gezeigte habe, bestünden für den Staatsanwalt keine Zweifel an der Schuldfähigkeit. Waitzinger nahm es mit trockenem Humor: Er sehe sich nunmehr gezwungen, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Damit komme er dem zu erwartenden Antrag der Verteidigung zuvor. Das Verfahren wird fortgesetzt, sobald das Gutachten vorliegt.