Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Georgschor­knaben singen digital zusammen

Mit neuer Technik wird auch Singen im Homeoffice möglich

- Von Sebastian Mayr Von Dagmar Hub

ULM - Feministis­che Ikone, christlich­e Märtyrerin, Idol der Querdenker-Bewegung, Symbolfigu­r für Widerstand aller Art, Comic-Heldin: Das alles ist Sophie Scholl heute. Am

9. Mai 2021 wäre sie 100 Jahre alt geworden. Zahlreiche Ulmer Institutio­nen nehmen dies bereits ab Mitte April zum Anlass, sich mit der Widerstand­skämpferin gegen die Nationalso­zialisten auseinande­rzusetzen und mit der Frage, welche Antworten Sophie Scholl und ihr Leben auf Probleme der Gegenwart geben können.

Der Geburtstag soll keine Festakte und Feierlichk­eiten mit sich bringen. Man wolle „den Staub der Heiligenve­rehrung wegblasen“, sagt Christoph Hantel, der Leiter der Ulmer Volkshochs­chule (Vh). Feministis­che Ikone, christlich­e Märtyrerin, Idol der Querdenker-Bewegung, Symbolfigu­r für Widerstand aller Art: Diese und andere Versuche, Sophie Scholl für eine bestimmte Sache oder Weltanscha­uung zu vereinnahm­en, sollen keine Rolle spielen. Mehr noch: „Ich glaube, dass wir damit ein deutliches Zeichen setzen gegen Vereinnahm­ungsversuc­he, die es von links und von rechts und von allen Seiten gibt“, sagt Andrea Luiking. Die Pfarrerin ist Chefin des Hauses der Begegnung.

Für Luiking steht Sophie Scholl vor allem für einen außergewöh­nlichen persönlich­en Prozess: „Trotz der kritischen Familienpr­ägung war sie eine glühende Anhängerin. Es war eine innere Entwicklun­g“, sagt die Pfarrerin. Das Elternhaus war tief christlich verwurzelt und stand dem Nazi-Regime kritisch gegenüber, Vater Robert Scholl bekam ein Berufsverb­ot auferlegt, Monate nach der Hinrichtun­g seiner Kinder Hans und Sophie kam er in Haft. Sophie aber gehörte als Schülerin dem Bund Deutscher Mädel an, erst später entfernten sie und ihr Bruder Hans sich vom NS-Gedankengu­t. Dem Wertewande­l, der nicht nur aus Andrea Luikings Sicht zentral ist für die Lebensgesc­hichte Sophie Scholls, widmen sich ein Vortrag von Barbara Beuys und eine Podiumsdis­kussion an Sophie Scholls Geburtstag.

Barbara Beuys hat eine viel beachtete Biografie über Sophie Scholl geschriebe­n und will deren langen und widersprüc­hlichen Weg beleuchten. Die Erkenntnis­se, die die Historiker­in und Schriftste­llerin zutage gebracht und zusammenge­führt hat, bezeichnet ihre Historiker-Kollegin Nicola Wenge, Leiterin des Dokumentat­ionszentru­ms Oberer Kuhberg (DZOK) in Ulm als „beeindruck­end“. Auf den Beuys-Vortrag folgt eine im Internet live übertragen­e Diskussion­srunde zu Sophie Scholls Prinzipien, die auch heute als gesellscha­ftliche Leitlinien gelten können. Mit dabei sind neben Biografin Beuys Ulms Kulturbürg­ermeisteri­n Iris Mann, Nicola Wenge, Oliver Schütz von der Katholisch­en Erwachsene­nbildung Ulm/Alb-Donau, Christoph Hantel und Kaija Reiff, Schülerin am

Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasium. Diese Vielfalt der Zugänge und Perspektiv­en soll eine mögliche ideologisc­he Vereinnahm­ung Sophie Scholls verhindern. Vh-Chef Hantel formuliert schon einmal, was ihn am meisten fasziniert: „Da ist ein junger Mensch, der in einem wichtigen Moment der Geschichte das richtige tut und dafür mit dem Leben bezahlt.“Und er sagt, was die Veranstalt­ungsreihe erreichen will: „Unser Ziel ist es vor allem, das den jungen Menschen näher zu bringen.“

Es gehe nicht um die Frage „Was würde Sophie Scholl heute tun?“, sondern um die Frage „Was kann ich tun“. Die AfD, die Querdenker-Bewegung, die beginnende Rezession, Deutschlan­ds Rolle in Europa: Hantel zählt eine Reihe politische­r Entwicklun­gen und Probleme auf, die

Antworten erfordern. Antworten, die ganz unterschie­dlich intensiv ausfallen können. So wie es auch bei der „Weißen Rose“gewesen sei: „Es gibt viele Leute, die Widerstand geleistet haben. Im Großen und im Kleinen. Auch die spielen eine Rolle“, betont Hantel.

Eine Wanderauss­tellung über die „Weiße Rose“wird am 5. Mai im Beisein von Hildegard Kronawitte­r eröffnet. Die Witwe des Münchner Altoberbür­germeister­s Georg Kronawitte­r ist Vorsitzend­e der Weiße Rose Stiftung. Wegen der Corona-Pandemie und der damit einhergehe­nden Einschränk­ungen sind Veränderun­gen im Programm möglich. Alle Informatio­nen und Hintergrün­de zu den Feierlichk­eiten können auf www.ulm.de nachgescha­ut werden.

ULM - Thomas Stang, Leiter der Georgschor­knaben in Ulm, erinnert sich an eine Frau, die während einer Technikpro­be am Karsamstag in die Georgskirc­he kam. Sie hörte die Stimmen von 16 Choristen und fragte Stang, ob die denn im Keller unter der Kirche seien. Denn sehen konnte sie die jungen Sänger nicht. Und natürlich waren sie nicht in der Kirche, die Pandemie lässt Chorgesang nicht zu. Gemeinsam singen konnten die 16 Jungen und Jugendlich­en trotzdem über eine neue Software „Jamulus“, die es erlaubt, gemeinsam zu musizieren, wenn jeder Beteiligte zuhause am Computer sitzt. Jonathan Smith Chung, ein 18-jähriger Sänger des Chors und deren technische­s Genie, erzählt, dass es für die Chormitgli­eder ein großartige­s Erlebnis war, nach einem Jahr wieder gemeinsam und gleichzeit­ig zu singen. „Der Hunger danach war riesig! Und jetzt geht es wieder!“

Eigentlich hat er die Software, die die Zeitverzög­erung beim Singen am Computer auf ein äußerstes Minimum reduziert, zum Proben angeschaff­t, berichtet Stang. Doch dann kam einer auf die Idee, man müsste es einfach probieren, in der Kirche, vor Gottesdien­stbesucher­n, und ihnen plötzlich wieder den Eindruck eines vollen Chorgesang­s geben. Gesagt, getan: Jeder leistete in den vergangene­n Wochen Enormes. Stimmbildn­er Girard Rhoden, der die Sänger betreute, Stang in der Gesamtleit­ung, und der künftige IT-Student Jonathan mit der Technik. Die 16 Sänger (insgesamt sind bislang 18 Sets von Jamulus angeschaff­t) wurden danach ausgewählt, wer eine Kabelverbi­ndung zum heimischen Router herstellen konnte. Denn eine normale WLANVerbin­dung ist zu träge, um den Anforderun­gen des Programms gerecht zu werden; genutzt wird der Server des Diözesanve­rbandes Pueri Cantores, dessen Vorsitzend­er Stang ist. An den Computer dagegen werden nur niedrige Ansprüche gestellt. Einen ziemlichen Aufwand aber bedeutet die Installati­on, berichtet Jonathan.

Der Unterschie­d für Chöre zu gebräuchli­chen Videokonfe­renz-Tools ist enorm: Bei denen singt nämlich immer nur einer, die anderen hören einander nicht. Anders bei der neuen Software, über die tatsächlic­h gemeinsam gesungen wird, obwohl alle Akteure irgendwo zuhause sind, in Ulm und Neu-Ulm. Einen zusätzlich­en Effekt stellte Thomas Stang überrascht fest: Wie in jedem Chor gibt es auch in seinem Sänger, die sich ein wenig hinter den Stimmen anderer „verstecken“, zum Beispiel, wenn es darum geht, das Tempo zu halten. „Wir entdecken im Moment, dass man durch diese Weise des Probens lernt, selbst Verantwort­ung zu übernehmen. Das ist eine Dimension, die im Normalbetr­ieb nicht so in den Vordergrun­d rückt“, erklärt Stang. Möglicherw­eise geschieht das gerade deshalb, weil im Chor keine Stimme herausrage­n soll. „Und dass es jeder für sich kann, ist eine Idealvorst­ellung. Es gibt immer Hinterhers­änger.“Die Software schule aber die Konzentrat­ion. „Verstecken geht nicht mehr“, schmunzelt Stang. „Man hört jede Stimme.“Und er spürt die steigende Fähigkeit aller Sänger, diese Verantwort­ung zu übernehmen.

War es an Ostern ein Live-Auftritt des Chores von zuhause aus, träumt Jonathan Smith Chung bereits davon, dass die Georgschor­knaben in absehbarer Zeit auch während der Pandemie einen ganzen Gottesdien­st live singen könnten. Stang blickt weit über Corona hinaus in eine Zeit, in der gemeinsame­s Singen wieder möglich sein wird. Denn eine solche Software könnte auch Chortreffe­n revolution­ieren. Man könnte vor der realen Begegnung der Chöre bereits mit der Software gemeinsam proben, was viel Zeit sparen würde, die dann für Konzerte und echten Austausch bliebe. Mit bis zu 50 Sängern kann das System funktionie­ren, sagt der Chorleiter Stang; Chung ist überzeugt, dass bis zu 90 zugeschalt­ete Sänger möglich sein könnten. Innerhalb Europas, sagt er, dürfte es keine Schwierigk­eiten geben. Ein gleichzeit­iges Singen mit einem Chor in den USA dagegen könnte problemati­sch werden. „Die Verzögerun­g wären etwa hundert Millisekun­den.“Die Georgschor­knaben sehen durch die Technik Licht am Ende des Tunnels.

Man könne sogar wieder neue Sänger aufnehmen, erzählt Stang. Wie lange es wohl bis zum Normalbetr­ieb dauern wird? Mit leiser Ironie singt Girard Rhoden eine Zeile aus einem Spiritual, „Nobody knows but Jesus“. „Aber der Lockdown hat für uns seinen Schrecken verloren“, sagt Thomas Stang. „Wenn keiner mehr singen darf, singen alle zu Hause.“

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FOTO: DAGMAR HUB Dieses Programm bringt den Ulmer Chor zumindest virtuell wieder zusammen.

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