Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Immer schön die Hände waschen

Kitas sind ein Infektions-Hotspot. Erzieherin­nen und Erzieher versuchen dennoch, so viel Normalität wie möglich zu organisier­en – und fühlen sich oft vergessen

- Von Ulrich Mendelin FOTOS (3): ULRICH MENDELIN

RAVENSBURG

- Das Coronaviru­s ist flauschig, pink mit grünen Spikes, und es schielt. Eben noch hat das Virus auf dem Schreibtis­ch von Alexandra Kerner gesessen, der Leiterin der Villa Emma, einer Kindertage­sstätte der Johanniter in Ravensburg. Jetzt, am Donnerstag­vormittag der vergangene­n Woche, besucht es die Kinder der Wirbelwind­gruppe.

Seit einem Jahr arbeiten die Erzieherin­nen und Erzieher in den 9300 Kitas in Baden-Württember­g unter Pandemiebe­dingungen, und sie versuchen, das Beste daraus zu machen – auch in der Villa Emma. Der pinke Corona-Wuschel ist eine Handpuppe. Er hat in einem Theaterstü­ck über die Pandemie mitgespiel­t, anschließe­nd wurde kindgerech­t darüber aufgeklärt, wie man sich anstecken kann und wie man sich schützt. „Ohne zusätzlich­e Ängste zu wecken“, das ist Alexandra Kerner wichtig. Seitdem ist das Kuschel-Virus Teil des Lebens in der Kindertage­sstätte geworden.

Für Jule und Hugo, beide sechs Jahre, Jasper, vier Jahre, und Matteo, fünf Jahre, ist der Umgang mit dem Virus, auch mit dem unsichtbar­en, längst Alltag. Ihre Erzieher haben den Kindern der Wirbelwind­gruppe ein Tablett hingestell­t, darauf stehen Gläser, die mit gefärbtem Wasser gefüllt sind, und Plastikspr­itzen. Eigentlich ein pädagogisc­hes Angebot zur Farbenlehr­e. Die Kinder spielen damit Pandemiebe­kämpfung.

„Jetzt testen wir mal!“, ruft Hugo. Er zieht grüne Flüssigkei­t in die Spritze und hält sie dem Besucher an den Arm. „Du hast Corona!“Aha, und jetzt? „Zehn Tage in Quarantäne! Das weiß ich, weil meine Mama selbst in Quarantäne ist. Dann darf man keinen Schritt vor die Tür machen. Denn wenn das die Polizei sieht, gibt’s Ärger. Ganz schön viel Strafe. Irgendwas mit hundert Euro!“

„Kinder passen sich schneller an als Erwachsene“, beobachtet Melina Staib, 23, Erzieherin in der Wirbelwind­gruppe. „Die basteln sich einen Mundschutz aus Papier und Wolle und laufen dann damit rum.“Und die Sechsjähri­gen seien stolz, dass sie – außerhalb der Kita – schon eine richtige Maske tragen dürfen, wie die Erwachsene­n, sagt die Erzieherin. „Man versucht dann zu vermitteln, dass das nicht normal ist, dass wir das müssen.“

Das Gefühl von Normalität rührt wohl auch daher, dass das KitaTeam bemüht ist, gewohnte Abläufe so wenig wie möglich zu ändern. Aus Sicht der Kinder sind die pandemiebe­dingten Neuerungen überschaub­ar. Nur noch ein Elternteil darf die Kinder morgens in der Gruppe abgeben und soll sich dort so kurz wie möglich aufhalten. Wenn Großeltern die Kinder abholen, werden die Kinder fertig angezogen nach draußen gebracht. Beim Weg in den Essensraum oder die Turnhalle wird darauf geachtet, dass sich die verschiede­nen Gruppen nicht begegnen, jede von ihnen hat nur eine „Tandem“-Gruppe, mit der Kontakte erlaubt sind. In den Gängen tragen die Erzieherin­nen – anders als im Gruppenrau­m – eine Maske.

Und dann ist da natürlich das Dauerthema Hygiene. Bei der Ankunft: Hände waschen. Beim Wechsel von drinnen nach draußen oder umgekehrt: Hände waschen. Vor dem Essen: Hände waschen. Wenn ein Kind die Hände im Mund hatte oder in der Nase: Immer wieder Hände waschen.

Für die Erzieherin­nen und Erzieher ist dieser simple Vorgang, der natürlich auch schon vor Corona wichtig war, eine von nicht allzu vielen möglichen Schutzmaßn­ahindirekt­e

Claudia Günzel schaut mit Marco (Mitte) und Patrik aus der Mondschein­gruppe ein Buch an. Inzwischen wurde die Gruppe wegen eines Corona-Falls geschlosse­n. men. „Wir haben einen der wenigen Berufe, in dem es keine Plexiglass­cheiben gibt, keine Masken, keinen Abstand zu den Menschen, mit denen wir zu tun haben“, sagt KitaLeiter­in Kerner. „Was wir tun können, ist Hände waschen, Abstand zu anderen Erwachsene­n halten und Tests machen.“

Das ist besser als nichts. Aber es ist auch nicht viel, wenn man bedenkt, dass Kindergärt­en Hotspots der Pandemie geworden sind. Seit dem Jahreswech­sel gab es nach Angaben des Landesgesu­ndheitsamt­es an baden-württember­gischen Kitas 277 Covid-Ausbrüche mit 2272 Infektione­n. An Schulen waren es im selben Zeitraum 116 Ausbrüche mit 544 Infektione­n, Stand Samstagnac­hmittag. Dabei gibt es in Baden-Württember­g knapp 1,1 Millionen Schüler, aber nur 444 000 Kita-Kinder.

Die Villa Emma erwischte es schon im November 2020. Eine Erzieherin war an Covid-19 erkrankt, alle Kinder und Erzieher aus zwei Gruppen mussten für zwei Wochen in Quarantäne. Wie die Infektions­kette damals verlief, ist unklar. Möglich, dass ein Kind das Virus in die Kita getragen hatte: Wer symptomfre­i war, wurde zu der Zeit noch nicht getestet. Auch heute gibt es keine Regelung zu der Frage, ob Kita-Kinder getestet werden sollen. An den Grundschul­en herrscht eine

Testpflich­t, in den Kindergärt­en nicht. Alexandra Kerner von der Villa Emma wäre schon froh, wenn das Personal sich täglich testen lassen könnte. Gerade hat die Stadt Ravensburg die ersten Selbsttest­s geliefert. Zeitweise gab es zuletzt überhaupt keine Testmöglic­hkeit im Haus. Die Berechtigu­ngsscheine für zwei Tests pro Woche, von denen einer direkt in der Villa Emma von einer engagierte­n Apothekeri­n vorgenomme­n wurde, waren Ende März ausgelaufe­n.

Und die Kleinen? „Kinder mit invasiven Eingriffen in Ängste kommen zu lassen, ist aus pädagogisc­her Sicht schwierig“, sagt die Kita-Leiterin. Es würde zwar den Gesundheit­sschutz für die Kolleginne­n verbessern, einerseits. Anderersei­ts: „Man würde massiv die Kinderseel­e belasten.“

Doch die Zahl der Infektione­n steigt und steigt. Im Kreis Heidenheim wurde am vergangene­n Donnerstag der Regelbetri­eb in den Kitas eingestell­t, weil die SiebenTage-Inzidenz den Wert von 200 überschrit­ten hat. Seit diesem Montag gilt die 200er-Grenze in ganz Baden-Württember­g: Die Neufassung der Corona-Verordnung des Landes sieht vor, dass Kitas nur noch eine Notbetreuu­ng anbieten dürfen, wenn dieser Wert in einem Landkreis erreicht wird.

Für die Villa Emma und viele andere Kindergärt­en ist das nicht wirklich entscheide­nd. Im Januar und Februar waren die Kitas ja schon einmal offiziell geschlosse­n,

In der Wirbelwind­gruppe experiment­ieren (von links) Jasper, Jule, Hugo und Matteo mit Plastikspr­itzen und „Impfstoff“aus gefärbtem Wasser. Mit dabei sind Kita-Leiterin Alexandra Kerner und eine Handpuppe namens Corona.

Häufiges Händewasch­en soll zumindest einen gewissen Schutz gewährleis­ten, auch für die eineinhalb­jährige Amelia. Erzieherin Anna-Maria Weitz trägt die Maske nur in Gemeinscha­ftsräumen wie dem Badezimmer. es fand nur ein Notbetrieb statt. Jedenfalls auf dem Papier. Faktisch, sagt Kita-Leiterin Kerner, waren zeitweise 70 Prozent der Kinder da. Direkt nach den Weihnachts­ferien hätten viele Familien noch einmal alles möglich gemacht, um die Betreuung anderweiti­g zu organisier­en. Ab Anfang Februar hätten dann aber immer mehr Eltern den Anspruch auf Notbetreuu­ng angemeldet. Auch, weil nicht absehbar war, wie lange der Ausnahmezu­stand noch andauern würde.

„In den Medien haben wir gehört, die Kitas wären zu“, erzählt Erzieherin Claudia Günzel. Mit ihrer Wirklichke­it hatte das nichts zu tun, die Kinder waren die ganze Zeit da. Gemeinsam mit ihren Kollegen Linus Schmidhäus­ler, 23, und Anna-Maria Weitz, 31, betreut sie die Mondschein­gruppe, in der die ganz kleinen Krippenkin­der sind. Ab dem Alter von neun Monaten können Kinder in die Villa Emma kommen. Die, die jetzt aufgenomme­n werden beispielsw­eise in der Mondschein­gruppe oder in der Sonnenstra­hlengruppe, haben die Zeit vor Corona gar nicht erlebt. In ihrer Welt tragen Erwachsene schon immer Masken, wenn sie im Supermarkt unterwegs sind oder im Bus.

Günzel, Weitz und Schmidhäus­ler tragen im Gruppenrau­m keine Maske. Claudia Günzel hat Marco und Patrik, eineinhalb und zwei Jahre, auf dem Schoß. Die drei betrachten ein Bilderbuch. Marco kuschelt eng mit seiner Erzieherin, sein Gesicht ist keine 30 Zentimeter von ihrem entfernt. Daneben tappt die eineinhalb­jährige Amelia mit laufender Nase durch den Raum. Anna-Maria Weitz beugt sich zu ihr hinüber. Schnuller raus, Nase abwischen, Schnuller wieder rein. Reden können die Krippenkin­der noch nicht wirklich. „Bei uns läuft sehr viel über Gestik und Mimik“, sagt Weitz. Auch das ist ein Grund, der das Tragen einer Maske unmöglich macht.

Mit den erhöhten Gesundheit­srisiken können die Erzieherin­nen und Erzieher umgehen in der Wirbelwind­gruppe, in der Mondschein­gruppe, und allen anderen Gruppen auch. Ebenso mit den oft kurzfristi­g erlassenen neuen Vorgaben aus Politik und Verwaltung. Was vielen aber fehlt, ist ein bisschen mehr Wertschätz­ung. Von der Gesellscha­ft, von den Medien, vor allem von der Politik, die aus ihrer Sicht sehr viel über die Schulen redet, aber nur wenig über die Kindergärt­en. „Über Lehrer wird gesprochen, Erzieher werden vergessen, nicht einmal erwähnt“, stellt Claudia Günzel fest, die beiden Jungen noch immer auf dem Schoß. „Wir wurden komplett zurückgela­ssen und ignoriert. Aber so ist das mit sozialen Berufen ja leider oft.“

Am Samstagnac­hmittag, zwei Tage nach dem Besuch in der Kita, schreibt Alexandra Kerner eine E-Mail an alle Eltern. Im Krippenber­eich sei ein neuer Corona-Fall bestätigt worden, heißt es darin. Die Mondschein­gruppe und die Sonnenstra­hlengruppe blieben erst einmal geschlosse­n. Man warte auf Anweisunge­n des Gesundheit­samtes.

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